Digitalisierung:Die Gefahr der totalen Vernetzung

Sind alle Geräte digital miteinander verknüpft, verliert die Privatsphäre der Bürger an Bedeutung. Erstaunlich, dass sie sich nicht dagegen auflehnen.

Gastbeitrag von Werner Meixner

Dem früheren Bundeskanzler Ludwig Erhard wird der Satz zugeschrieben, dass die Wirtschaft dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt. Entsprechendes gilt für wissenschaftliche Forschung. Was aber derzeit innerhalb der Computerwissenschaften stattfindet, ist eine weitgehende Abkehr von einer am Menschen orientierten Forschung. Der Mensch degeneriert dort zum kontrollierten Objekt als Teil einer elektronisch vernetzten "Welt der Dinge". Dort ist er intransparenten Automatismen ausgeliefert; seine täglichen Entscheidungen hat er als Daten preiszugeben.

Ziel der Entwicklungen mit dem Namen "cyber-physical Systems" ist, möglichst alle technischen und gesellschaftlichen Vorgänge zu erfassen und sie in einer riesigen Rechnerzentrale mit der Möglichkeit der Verarbeitung und steuernden Rückkopplung zu erfassen. Biologen definieren so das Gehirn im Verhältnis zu einem Organismus. Kündigt sich hier schon die Fortführung der Evolution der menschlichen Gesellschaft und des Lebens überhaupt an?

Der Autor

Werner Meixner, 68, ist Informatiker an der Technischen Universität München und beschäftigt sich mit Systemen, um die individuelle Kommunikation zu schützen.

Die Vision einer vollständigen Vernetzung ist lebensfremd

Wohl kaum. Hätten die Experten der Computerwissenschaften den natürlichen Forschungsgegenstand der Informatik als die Wissenschaft des Lebens erkannt und mithin jener Erscheinung der Natur, die geistiges Leben hervorgebracht hat, dann hätten sie sich ein Beispiel nehmen können an dem effizientesten informationsverarbeitenden System, das die Natur kennt: nämlich der Gesamtheit der lebendigen Organismen, also des Lebens, beispielsweise auf der Erde.

Vor Hunderten Millionen Jahren schon haben die Lebensprozesse damit begonnen, unabhängige Individuen auszubilden, die nicht mehr direkt miteinander verbunden waren. Die Eingriffe fremder Individuen in den eigenen Körper eines Individuums wurden durch ein starkes Immunsystem unterbunden, das sozusagen die Privatsphäre des Individuums sichert. Alle Komponenten nun risikoreich zu vernetzen, um sie besser steuern zu können - das ist in keinem lebensähnlichen Entwicklungskonzept enthalten. Dies zielt stattdessen darauf ab, einen zentral gesteuerten Gesamtorganismus als ein einziges Gesamt-Individuum zu etablieren, ja, ein "Monstrum" zu schaffen. Die von Experten entwickelte Vision einer totalen, also weltweiten und möglichst vollständigen Vernetzung der "Welt der Dinge" ist im eigentlichen Wortsinn lebensfremd.

Der Cyber-Krieg wird in Zukunft weitgehend automatisiert geführt werden

Die weltweite elektronische Vernetzung von Geräten und Menschen ist eine gefährliche Fehlentwicklung. Sicherheitsexperten können die Risiken, denen die Bevölkerung, die Wirtschaft, die Gesellschaft, der Staat durch Kriminalität, Spionage und Sabotage ausgesetzt sind, weder abschätzen geschweige denn begrenzen. Man muss davon ausgehen, dass nahezu alle derzeit verwendeten und elektronisch oder funktechnisch vernetzten Systeme von außen überwacht und kontrolliert werden können - inklusive der Möglichkeit, unbemerkt zu steuern und zu manipulieren. Zur tödlichen Gefahr wird die Vernetzung, wenn ein Baustein der Automatisierung von kriegerischen Angriffen aus dem Internet heraus agiert, weil Algorithmen befehlen, eine mutmaßliche Gefahr abzuwenden.

Das mag nach Science-Fiction klingen, dieser Baustein wird jedoch bereits entwickelt. Er ermöglicht den automatisierten präventiven Cyber-Krieg. Bei dieser bereits bestehenden Risikolage müssen sofort alle kritischen Anlagen vom Internet genommen werden.

Alles wird von jedem Punkt der Welt aus sabotierbar

Politisch ist zu fragen, ob Amtseide verletzt werden. Es ist schon erstaunlich, dass die Bürger der meisten zivilisierten Staaten nicht gegen die ungeheuere, durch die schon bestehende oder geplante Vernetzung verursachte Bedrohung ihrer existenziellen Grundlagen aufstehen. Aufstehen dagegen, dass Kommunikation mittels Internet mit eigenem Rechner, Handy und anderen Geräten praktisch zur Herausgabe sämtlichen Datenbesitzes, zu Kontrollverlust über eigene Geräte, zu Abhängigkeit und Außensteuerbarkeit und zu existenziellen Risiken führt. Aufstehen dagegen, dass Stromversorgung, Atomkraftwerke, Wasserversorgung, Verkehr, Wirtschaft, Finanzen, Krankenhäuser, private Haushalte, alles vernetzt ist und theoretisch wie praktisch über das Internet von jedem Punkt der Welt aus spionierbar, manipulierbar, sabotierbar ist - mit unabsehbaren Folgen für die betroffene Bevölkerung.

Eine bedrohliche Konsequenz der Vernetzung aller Geräte besteht kurzfristig darin, dass die Voraussetzungen für ein industrielles Konzept geschaffen werden, das auf Enteignung privater Daten und letztendlich auf der systematischen Verletzung der Privatsphäre begründet ist. Die Privatsphäre ist der Raum privater Entscheidungen, das heißt Handlungen, die verantwortet werden müssen. Entscheidungen sind die wohl edelsten Zustandsänderungen, die das Leben hervorgebracht hat. Nicht nur dem Griff zur Axt, um den Baum des Nachbarn zu fällen, liegt eine Entscheidung zugrunde, die verantwortet werden muss, aus deren Folgen man zu lernen hat. Jede menschliche Entscheidung - und das wissen Konzerne ganz genau - bedeutet einen Wertschöpfungsakt.

Wird die Privatsphäre aufgelöst, hat das Auswirkungen auf die Wirtschaft

Das Wichtigste dabei ist, dass der Eigentümer dieses produzierten Wertes derjenige ist, der die Entscheidung getroffen hat und verantwortet. Dies genau ist die Bedeutung des Privaten, aus der auch die unbedingte Schutzwürdigkeit des Privaten folgt. Jegliche wirtschaftliche Tätigkeit ergibt sich daraus. Falls die Privatsphäre aufgelöst wird, gibt es keine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung mehr. Ein Gemeinwesen wird so in der Wurzel zerstört. Firmen, die durch fremde Wertschöpfung produzierte Werte lediglich massenhaft aufsammeln, betreiben keine Wertschöpfung durch Aufsammeln sondern eine massenhafte Abschöpfung von Werten.

Könnte es nicht passieren, dass der Nutzer des Internet eines Tages dessen so genannte Segnungen als Zumutung empfindet und offline geht, insbesondere dann, wenn sich vernünftige Alternativen bieten? Für die Protagonisten einer totalen Vernetzung käme das Kappen der Online-Verbindung durch die Nutzer einem "Großen Anzunehmenden Unfall" gleich. Sie müssen sich fragen lassen, ob sie nicht auf Treibsand bauen. In jüngster Zeit gibt es dramatische Beispiele dafür, dass die Existenz mächtiger Konzerne auf dem Spiel stehen kann, wenn Experten glauben, auf Täuschung bauen zu können.

Realpolitisch müssen nicht nur öffentliche Einrichtungen elektrisch vom Internet getrennt werden, sondern es müssen die informationstechnischen Entwicklungen für Privatpersonen und Wirtschaftsunternehmen der vergangenen 20 Jahre neu erfunden werden. Wichtigster Maßstab ist dabei, die Privatsphäre wieder zu sichern.

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