Militäreinsatz:Luftschläge in Syrien und Irak töten Hunderte Zivilisten

Militäreinsatz: Die ersten russischen Luftschläge trafen Talbiseh, im Westen Syriens. Auch dort sollen Dutzende Zivilisten getötet worden sein.

Die ersten russischen Luftschläge trafen Talbiseh, im Westen Syriens. Auch dort sollen Dutzende Zivilisten getötet worden sein.

(Foto: AP)
  • Wie viele Zivilisten bei Luftschlägen in Irak und Syrien sterben, wird bisher kaum thematisiert.
  • Staaten wie Großbritannien behaupten, bisher keinen einzigen Zivilisten getötet zu haben. Experten bezweifeln dies.
  • Organisationen wie Airwars zählen seit Beginn der Angriffe im August 2014 zwischen 682 und 977 Tote.

Von Antonie Rietzschel

Die Kampfflugzeuge kommen zwischen 23 Uhr und Mitternacht. "Wir waren vier Familien, die sich in einem Raum versteckt hielten. Beim ersten Angriff starben mein Cousin und eines seiner Kinder", erzählt ein Überlebender. Ein kleines Mädchen berichtet, ihr Vater und eine der zwei Schwestern seien getötet worden.

Ende April fliegt das internationale Militärbündnis unter der Führung der USA Angriffe auf das syrische Dorf Ber Mahli, wo Stellungen des Islamischen Staates vermutet werden. Ein Sprecher des Bündnisses erklärt, man sei vorab durch eine kurdische Gruppe vor Ort informiert worden, dass sich dort keinerlei Zivilisten befänden. 50 Terroristen seien getötet worden. Nach inoffiziellen Angaben starben 64 Unbeteiligte, ganze Familien wurden ausgelöscht. Ein offizielles Eingeständnis, dass bei dem Einsatz auch Zivilisten starben, fehlt bis heute.

Seit August 2014 bekämpft das Militärbündnis den Islamischen Staat. Angriffe aus der Luft gelten dabei als effektivste Vorgehen. Und wenn man David Cameron glauben darf, sterben dabei auch kaum Zivilisten. Der britische Premier erklärte jüngst, bei keinem der durch die britische Luftwaffe ausgeübten Angriffe seien Zivilisten getötet worden. Er begründete das mit der Präzision der Waffen.

Bis zu 977 Tote durch Luftschläge

Doch Experten haben Zweifel an dieser Behauptung. "Es wäre erstaunlich, wenn es über einen solch langen Zeitraum keine zivilen Verluste gegeben hätte", so ein Mitarbeiter des Royal United Services Institute, das sich mit Fragen der nationalen und internationalen Sicherheit befasst. "Du kannst einen sehr präzisen Angriff auf ein Fahrzeug ausüben von dem du denkst, darin befänden sich Terroristen - aber was wenn darin tatsächlich Zivilisten sitzen? Nur Aufklärung und Überwachung kann zu Gewissheit führen."

Genau darin besteht die Schwierigkeit. Weder die USA noch Frankreich oder eine der anderen beteiligten Staaten veröffentlicht Zahlen über tote Zivilisten. Bisher wurden nur zwei Vorfälle offiziell als "wahrscheinlich" tödlich eingestuft - Hatra im Irak und Harem in Syrien.

Dass die 64 Toten auf das syrische Dorf Ber Mahli überhaupt ins öffentliche Bewusstsein gelangten, ist der Organisation Airwars zu verdanken. Das Team sitzt in Großbritannien und versucht von dort aus die Toten zu zählen und deren Schicksale aufzuschreiben. "Wir versuchen den Krieg live zu dokumentieren", sagt Chris Woods, der früher für die BBC gearbeitet hat und lange im Irak unterwegs war. "Wir wollen zeigen, dass durch die Luftschläge viele Zivilsten sterben "

Nach Recherchen von Airwars wurden in Syrien und Irak bis zum 1. Dezember zwischen 682 und 977 Zivilisten bei Luftangriffen getötet. Die Recherche ist noch nicht abgeschlossen. Aber sie lässt Zweifel an Camerons Aussage aufkommen, kein Zivilist sei bislang von einem britischen Kampfjet getötet worden.

Was ist eigentlich überhaupt ein Zivilist? Schon bei der Beantwortung der Frage tun sich die an den Luftschlägen beteiligten Länder schwer. Das war zuletzt in den USA zu sehen, bei einer Anhörung des parlamentarischen Kontrollausschusses der Streitkräfte. Eines der Mitglieder erklärte, nicht verstehen zu können warum bei Angriffen auf Tanklaster erst Warnschüsse für die Fahrer abgegeben würden. "Wenn du einen Tanklaster für eine Terrororganisation fährst, gehörst du zu ihren Kämpfern." Ein hochrangiges Militärmitglied sagte hingegen, dass es sich um Leute handle, die lediglich Geld verdienen wollen. "Wir sollten keine unschuldigen Menschen töten, die nicht mal in das Raster des IS passen." Gleichzeitig versprach er aber, dass die Beschränkungen künftig gelockert würden.

Viele Zivilisten sterben durch russische Bomben

Die meisten Hinweise erreichen Airwars über soziale Netzwerke. Angebliche Augenzeugen posten Videos und Fotos. "In Syrien hat jeder ein Handy mit hoch auflösender Kamera - da draußen geistert also ein ganzer Haufen Material herum", sagt Woods. Das Team von Airwars versucht mithilfe anderer Organisationen weitere Quellen zu finden und recherchiert, ob zu der Zeit überhaupt Angriffe in der Region geflogen wurden. Dazu werden offizielle Datenbanken der Verteidigungsministerien überprüft oder die Journalisten fragen direkt nach. Auf der Internetseite von Airwars findet sich eine ausführliche Liste über Hinweise und Rechercheergebnisse. Einige Berichte stellen sich auch als Fake heraus und werden entsprechend gekennzeichnet. Meist handelt es sich um Propaganda, die vom Islamischen Staat verbreitet wird.

Seitdem auch Russland Angriffe fliegt, kommt Airwars kaum hinterher mit der Überprüfung. "Wir bekommen mittlerweile drei bis vier Hinweise am Tag im Zusammenhang mit Russland. Wir sind immer noch dabei, das ganze Material durchzuarbeiten." Bisher geht die Organisation davon aus, dass seit Anfang September zwischen 255 und 375 Zivilisten getötet wurden. Noch nicht eingerechnet, ist der jüngste Angriff auf einen Marktplatz in Ariha bei dem 30 Menschen starben.

Russland benutzt weniger präzise Waffen. Doch das ist nur eine Erklärung. Obwohl Präsident Wladimir Putin betont, Stellungen des Islamischen Staates zu bombardieren, trifft es immer wieder Regionen in denen sich vor allem Rebellen befinden, die gegen die syrische Armee kämpfen.

Manche Ziele sind auch dem Team von Airwars ein Rätsel. "Es werden Orte angegriffen, die überhaupt keine militärische Bedeutung haben", sagt Woods. Das amerikanische Magazin Time schrieb vor kurzem, Russland würde unter Zivilisten sogar mehr Schaden anrichten als beim IS. Russland allein anzuprangern, empfindet Woods aber als scheinheilig. "Der Albtraum ist doch, dass die Menschen dort von allen Seiten bombardiert werden. Alle nehmen den Tod von Zivilisten in Kauf."

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