Römisches Nationalmuseum:Ruinen altern nicht

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Was sehen wir im Verfall? Woher rührt seine Faszination? Eine Ausstellung in Rom versucht, das zu erklären - und erweitert den klassischen Trümmer-Kanon mit Beispielen aus Hollywood und Detroit.

Von Thomas Steinfeld

Was ist eine Ruine, wenn nicht ein Zeugnis der Vergangenheit? Ein Haufen Steine, durch den der Wind und das Wetter, der Krieg und die Diebe gegangen sind, an dem aber noch zu erkennen ist, was sie einst waren: ein Haus, ein Tempel, eine Festung. Zugleich aber ist die Ruine weitaus mehr als das, was vom Stoff der Vergangenheit übrigblieb. In einer Ruine verbirgt sich auch die Zukunft.

Sie tut es in dem Maße, wie sich der Gedanke an die Vergänglichkeit an die Ruine knüpft: Denn so, wie dieses Haus aussieht, wird einmal jedes Haus aussehen, und ich, der ich dieses Haus jetzt sehe, werde vielleicht nicht mehr da sein, um es als Ruine zu erleben - oder um es als Ruine erleben zu müssen. Insofern ist die Erkenntnis, dass Ruinen erst in der geschichtlichen Betrachtung der Welt eine bedeutsame Rolle spielen, nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere besteht in einer Erwartung oder gar in einer Vorhersage.

Wie die beiden Momente einer Ruine, das Vergangene und das Zukünftige, miteinander verbunden sind, zeigt ein Film, genauer: die letzte Sequenz in Franklin J. Schaffners "Planet der Affen" aus dem Jahr 1968. In ferner Zukunft flieht darin der Held vor den Affen, die den Planeten beherrschen, auf dem sein Raumschiff in einem See verschwand. Und so reitet er an einem Meeresstrand entlang, an den rostigen Resten hoher Türme vorbei, um dann vor der letzten Ruine vom Pferd und auf die Knie zu sinken: Vor ihm erhebt sich, bis über die Mitte im Sand verborgen, die Freiheitsstatue, mit zerbrochener Fackel.

"Oh, my God, I'm home", ruft bei ihrem Anblick Charlton Heston in der Rolle des Astronauten. Nach einer Reise von zweitausend Jahren Dauer ist er dort angelangt, wo er hergekommen war - auf der Erde, die in der Zeit zwischen Abreise und Rückkehr durch einen Atomkrieg verwüstet wurde. Die Ruine, hatte der Philosoph Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärt, sei die Gegenwartsform der Vergangenheit. Aber sie ist auch die Gegenwartsform der Zukunft.

Der Palazzo Altemps in Rom, die ehemalige Residenz des Kardinals von Hohenems, ist ein prächtiges Gebäude der Renaissance, in dem einige der herrlichsten Sammlungen antiker Statuen untergebracht sind, wenige intakt, die meisten beschädigt, viele (wie es bis ins 19. Jahrhundert üblich war) um neue Köpfe und Gliedmaßen ergänzt.

Gegenwärtig beherbergt der Palazzo zudem eine Ausstellung mit dem Titel "La forza delle Rovine" ("Die Kraft der Ruinen"). Die letzte Sequenz des Films "Planet der Affen" wird darin im zweiten Saal gezeigt, neben Ausschnitten aus Billy Wilders "A Foreign Affair" (1948) und aus Theo Angelopoulos' "Der Blick des Odysseus" (1995).

Überhaupt geht es bei dieser Ausstellung hin und her zwischen den Ruinen, den Orten und den Zeiten, ja auch zwischen den Medien. Denn der Anspruch der Schau beschränkt sich nicht darauf, noch einmal die Geschichte der antiken Ruine zu erzählen, wie sie im 16. Jahrhundert zum Muster für eine Erneuerung der abendländischen Kultur und im 18. (neben der gotischen Ruine) zum Symbol der Vergänglichkeit und einer neuen Kunstanschauung wurde. Diese Geschichte erzählt die Ausstellung auch. Aber sie beansprucht mehr: Sie will in der Ruine einen Weltzustand entdecken.

Und so hängt neben den Stichen römischer Ruinen, die Giovanni Battisti Piranesi im 18. Jahrhundert zur Belehrung und Unterhaltung durchreisender Nordeuropäer in großen Mengen anfertigte, eine Fotografie der gewaltigen verfallenden Produktionsanlagen des Automobilherstellers Packard in Detroit, durch ein zerbrochenes Fenster aufgenommen (Yves Marchand und Romain Meffre, 2005).

In Deutschland gelten Trümmer als Ausdruck des Scheiterns und werden abgeräumt

Das Nebeneinander erscheint als Steigerung: Jahrhunderte standen die Gebäude der Antike, bevor sie zerstört wurden, und weit mehr als tausend Jahre überdauerten sie im Ruinenstatus. Aus vergänglicherem Material dagegen besteht die Fabrik: Sie hatte nur kurze Zeit Bestand, und in fünfzig oder hundert Jahren wird sie an die Natur zurückgefallen sein. Moderne Ruinen sind in Deutschland selten, sie gelten als Ausdruck des Scheiterns und werden abgeräumt. In vielen anderen Ländern aber, in Italien wie in den Vereinigten Staaten, lässt man sie stehen, wenn sich der Fortschritt woanders ereignen soll und die Haufen alter Steine nicht den Weg blockieren.

Eine gewaltige Trümmerlandschaft war Rom, als die Maler des 15. Jahrhunderts begannen, Christi Geburt vor antiken Ruinen abzubilden. Überwunden wurde das Leben in Trümmern scheinbar erst, als mit der Gründung des italienischen Staats ein neues Rom entstand und die Archäologie die historischen Stätten in Museen verwandelte. Im Palazzo Altemps ist nun zu sehen, dass das Leben in Ruinen zwar in Rom der Vergangenheit angehört, dass es aber anderswo weitergeht, und zwar ausgeprägter als je zuvor.

Das liegt nicht nur an den Kriegen, die kein Ende nehmen und von deren Folgen eine große Zahl der in der Ausstellung gezeigten Werke berichtet, sondern auch an einer Marktwirtschaft, die alles dem Verfall überlässt, was nicht mehr zur Produktion von Mehrwert taugt: Ihr Wirken beginnt bei den unvollendeten oder verlassenen Gebäuden, wie sie etwa in den Ländern am Mittelmeer überall zu finden sind. Es setzt sich fort in der Technik des modernen Bauens, deren bevorzugter Stoff, das Glas, der intensiven Pflege bedarf, um nicht binnen weniger Jahre ins Ruinenstadium überzugehen (Alessandro Celani: "La Serra", 2015). Und es hört bei Wüsteneien wie den aufgegebenen Ölfeldern von Aserbaidschan (fotografiert von Edward Burtynsky, 2006) noch lange nicht auf.

Nicht nur die Menge der Ruinen erhöht sich offenbar wie nie zuvor. Auch das Bedürfnis nach ihnen wächst, was nicht nur eine Ausstellung wie diese belegt (oder die Schau "Ruin Lust", die im Frühjahr 2014 in der "Tate Britain" gezeigt wurde), sondern auch das sich rasch vermehrende künstlerische Interesse an der Ruine, in der bildenden Kunst im allgemeinen, besonders aber in der Fotografie: Es scheint, als wäre die Ruine der einzigartig angemessene Ausdruck einer nicht nur möglichen, nicht nur wahrscheinlichen, sondern - in Teilen - auch tatsächlich eingetretenen Entwertung allen Reichtums geworden, so wie sie mit der Immobilienkrise des Jahres 2008 durch die westlichen Industrieländer begann und wie sie seitdem eine eigene Ästhetik der Krise hervorbrachte.

Im Bild der Ruine manifestiert sich nicht nur das Bedürfnis, sich die Verwandlung einer funktionierenden Lebenswelt in eine wertlose Trümmerlandschaft immer wieder vor Augen zu führen, sondern auch das Verlangen, einer nicht beherrschbaren und also geheimnisvoll bleibenden Bedrohung Ausdruck zu verleihen.

Im Palazzo Altemps stehen etliche einst zerstörter Bildnisse, denen nachgebildete Gliedmaße und Köpfe angefügt wurden. So etwas tut man nicht mehr, jedenfalls nicht bei Skulpturen. Diese werden, wie der für die Ausstellung aus den vatikanischen Museen entliehene Torso vom Belvedere, auch ohne die fehlenden Körperteile als Kunstwerke genossen. Ja, sie eignen sich dazu sogar in besonderem Maße, weil die Beschädigung sie in Kunstwerke einer höheren, romantischen Art verwandelt: Am Fragment macht sich eine Bedeutung geltend, die alles Sichtbare übersteigt.

Das gilt auch für Ruinen. Denn abgesehen von den unendlich vielen und unendlich großen Industriewüsten nicht nur in den Ländern der Dritten Welt, die erhalten bleiben, weil sie wirtschaftlich nicht interessant sind: Immer mehr Ruinen sind Trümmerstücke, wenn nicht Trümmerlandschaften, die als solche bewahrt werden, an einem bestimmten Punkt des Verfalls, der dann gleichsam ewig gelten soll.

Zusammengenommen bilden diese Ruinen ein ausgedehntes Jenseits im Diesseits. Und dessen Funktion übersteigt bei weitem die Inszenierung von Geschichte und Vergänglichkeit. Denn die Idee der Vergänglichkeit setzt noch einen Menschen voraus, der diesen Gedanken denkt. Tatsächlich aber will der Ruinenkult über den Menschen hinaus: dorthin, wo kein Mensch mehr lebt und nur noch die Materie übrig ist, er will bis ans äußerste Ende der Geschichte.

La Forza delle Rovine. Museo Nazionale Romano, Palazzo Altemps, Rom. Bis 31. Januar. Katalog (italienisch) 35 Euro.

© SZ vom 11.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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