US-Politologe:"Wir Amerikaner verspielen unsere Zukunft"

Lesezeit: 7 min

Ein Obdachloser in der U-Bahnstation in der Nähe des Weißen Hauses in Washington. (Foto: REUTERS)

Mit ihrer Regierungsfeindlichkeit gefährden die Republikaner den künftigen Wohlstand, sagt Politologe Jacob Hacker.

Interview von Matthias Kolb, Washington

Jacob Hacker ist Politik-Professor an der Elite-Universität Yale. 2010 belegte der 44-Jährige mit Paul Pierson im Buch "Winner-Takes-All-Politics", dass die Politiker in Washington einen großen Anteil daran haben, dass die Einkommen in den USA in den vergangenen 30 Jahren von unten nach oben verteilt wurden. Im SZ-Interview sagte er 2013: "Kein Land verwöhnt Millionäre mehr als die USA." Mit seinem neuen Buch "American Amnesia", das er wieder gemeinsam mit Pierson geschrieben hat, will Hacker die Amerikaner daran erinnern, welch wichtige Rolle staatliche Programme für den wirtschaftlichen Aufstieg ihres Landes spielten.

SZ: Was sagt die durchschnittliche Körpergröße der Amerikaner darüber aus, wie die US-Regierungen zuletzt gearbeitet haben?

Jacob Hacker: Die Amerikaner sind heute nicht sehr groß, aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren wir die größten Menschen der Welt. Die US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg überragten die Soldaten der Wehrmacht um fünf Zentimeter. Mitte der sechziger Jahre haben uns Niederländer und Skandinavier überholt. Größe ist kein Wert an sich, aber Ärzte sehen sie als guten Indikator für die Gesundheit eines Volkes an. Dies zeigt, dass die US-Gesellschaft nicht mehr so viele Fortschritte macht. Wir hatten früher die höchste Lebenserwartung aller Industriestaaten - nun liegen wir fast ganz hinten. Viele US-Bürger sind zu dick, und zuletzt sind sogar die Sterberaten angestiegen: vor allem für Weiße um die 50. Das zeigt, dass der Motor der US-Wirtschaft nicht mehr rund läuft: Wir produzieren nicht mehr wie früher ausreichend Wohlstand für alle.

Ihr neues Buch heißt "American Amnesia". Was haben die Amerikaner denn vergessen?

Die meisten US-Bürger sind sich nicht mehr bewusst, wie wichtig die Rolle der Regierung für den Aufstieg ihres Landes war. Dies zu ignorieren, das schaffen nur die Amerikaner, in Europa ist es anders. Wir zeigen, dass staatliche Maßnahmen zu steigenden Einkommen und verbesserter Gesundheit führten. Wir Amerikaner verspielen unsere Zukunft, wenn wir vergessen, dass alle profitieren, den starken Daumen des Staates mit den geschickten Händen des Marktes zu kombinieren. Ich mag dieses Bild sehr: Der Daumen allein ist nicht funktionsfähig.

Wann hat denn die US-Regierung mit den großen Investitionen begonnen?

Die Förderung von höherer Bildung hat ihren Anfang im "Morrill Act" 1862. Dadurch wurden Hochschulen wie Cornell, die University of Wisconsin oder das MIT gegründet - also das Rückgrat der wissenschaftlichen Infrastruktur. Entscheidend war der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg: In einem Jahrzehnt ersetzten die USA Deutschland als Heimat der wichtigsten Wissenschaftler - was sich in der US-Dominanz bei den Nobelpreisen zeigte. Der Republikaner Vannevar Bush überzeugte Präsident Roosevelt, viel Geld in die Grundlagenforschung zu pumpen, als das Kriegsende nahte. Er war überzeugt, dass der wirtschaftliche Erfolg und die militärische Stärke der USA wachsen werden, wenn viel in Institutionen wie die "National Science Foundation" investiert werde.

So einen Vorschlag würde heute wohl kein Republikaner mehr machen.

Auch deshalb heißt das Buch "American Amnesia": Es gab eine Attacke auf unser Verständnis von Regierung, die Amnesie wurde durch Gewalt zugefügt. Ein Angreifer ist die republikanische Partei, die früher eine moderate Rolle der Regierung im Wirtschaftsleben klar befürwortete. Wir zeigen den Wandel am Beispiel von Mitt Romney, der 2012 gegen Obama verlor, und seinem Vater George.

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George Romney war Gouverneur in Michigan, einem Staat, den sonst die Demokraten dominieren.

Als Geschäftsmann war er nur bei American Motors Company tätig. George hat mit Gewerkschaften kooperiert und die Verherrlichung des "rauen Individualismus" beklagt. Für ihn sollte die Regierung den Wohlstand aller Bürger fördern. Mitt hat in der Finanzbranche viel mehr verdient. 2012 sprach er oft über die makers und die angeblich faulen takers, die der Staat unterstützt - als seien beide Gegner. Jeder erinnert sich an seinen "47 Prozent"-Spruch. Doch bezeichnender ist eine andere Wahlkampf-Episode: Als ihn ein junger Mann fragte, wie er sein Studium finanzieren solle, sagte Romney: "Informiere dich gut, aber erwarte nicht, dass der Staat dir deine Schulden abnehmen wird." Wenn man bedenkt, wie wichtig Bildung heutzutage ist, erscheint diese Haltung sehr engstirnig: Aber leider ist sie in konservativen Kreisen weit verbreitet.

Wer ist der zweite Angreifer, der die US-Regierungen schlecht redet?

Das ist die business community, die immer konservativer wird. Wir haben die höchsten Gesundheitskosten der Welt, aber weder Republikaner noch Wirtschaftsverbände wie der "Business Roundtable" fordern eine Reduzierung. Die Herausforderung des Klimawandels ist riesig, aber die "Chamber of Commerce" und das Polit-Netzwerk der Koch-Brüder blockieren alles. Als Unternehmen kann man die Lobbyisten der Chamber einfach mieten. Das war früher nicht so. Die Verbände und die Grand Old Party sind in vielen Bereichen bereit, Maßnahmen durchzusetzen, die die Allgemeinheit ärmer machen und von denen nur ein ganz kleiner Teil der Amerikaner profitiert.

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Manchmal ist es am wirksamsten, dafür zu sorgen, dass gar nichts beschlossen wird.

US-Konservative schimpfen über crony capitalism, wonach der Staat Konzerne aktiv begünstige. Oft hilft es diesen, wenn die Regierung ihren Job nicht macht. Schauen wir uns die Finanzkrise an: Dass viele Billionen verloren wurden, liegt daran, dass zu wenig kontrolliert wurde und die Regulierungen kaum vorhanden waren. Der Schaden wird nun der Gesellschaft aufgebürdet. Das war kein Almosen: Wir haben die Regierung nicht dort eingesetzt, wo wir sie benötigt hätten.

Donald Trump hat bei CNN gesagt , dass der Staat drei Aufgaben habe: nationale Sicherheit, Gesundheitsvorsorge und Bildung. Das widerspricht der "reinen" republikanischen Lehre, und trotzdem gewinnt er eine Vorwahl nach der anderen.

Der Erfolg von Trump legt offen, dass die republikanischen Wähler nicht so radikal sind wie die Partei-Elite und die Wirtschaftsverbände. Die Agenda, den Staat zurückzudrängen, Steuern für Reiche zu reduzieren und Sozialprogramme zu kürzen - dafür gibt es keine breite Unterstützung. Aber Trump wirbt nicht für eine effektive Regierung: Er möchte ebenfalls Steuern kürzen, was zu Milliarden neuer Schulden führen würde. Wegen ihm diskutieren wir nicht darüber, was eine Regierung im 21. Jahrhundert machen soll. Er liefert uns eine Fülle von Attacken und die Aussicht, dass die Republikaner einen Kandidaten aufstellen, der überhaupt keine Regierungserfahrung besitzt.

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Die Anhänger von Bernie Sanders sind ebenfalls wütend. Sind die beiden vergleichbar?

Laut Umfragen gibt es Wähler, die beide mögen: Weiße Arbeiter, die in sozialen Fragen moderat sind, Freihandel ablehnen und überzeugt sind, dass die Regierung nur an Reiche denkt. Es ist sehr ironisch, einen Milliardär zu unterstützen, wenn man die USA für eine Plutokratie hält. Trump ist auch erfolgreich, weil er Vorurteile ausnützt und Muslime sowie hispanics dämonisiert. Weil er sich oft sexistisch äußert, ist er bei Frauen unbeliebt, was ihm im November sehr schaden wird. Sanders ist ganz anders: Er macht keine Minderheiten schlecht. Er ist genauso wütend wie seine Anhänger, aber er denkt nicht, dass durch seine Wahl alle Probleme gelöst sind: Das scheint ja Trumps Lösungsansatz zu sein. Mich überraschen Sanders' Erfolge, doch diese könnten sehr nützlich sein.

Dank Sanders reden wir endlich über große Probleme wie die hohen Kosten für Uni-Bildung. Letztlich steht doch Hillary Clinton für vernünftiges Regieren. In unserem Zwei-Parteien-System gilt es, die Demokraten dazu zu drängen, die positive Rolle des Staats zu betonen und für Wähler der Mittelschicht und Arbeiterklasse zu kämpfen. Die Partei steht auch unter Druck, den Firmen und Großspendern zu helfen, die ihre Wahlkämpfe finanzieren - dies sollte nicht passieren. Die Bürger müssen die Republikaner dazu bringen, sich wieder auf positive Art einzubringen - auch wenn sie dafür noch einige Wahlen verlieren müssen. Trump wird die Partei nicht auf diesen Weg führen.

Was würde passieren, wenn er nominiert wird und die Wahl im November verliert?

Ich fürchte, dass die Republikaner daraus den Schluss ziehen: "Wir hätten Trump nie nominieren sollen." Allerdings wäre die wichtigere Botschaft eine andere: "Unsere Partei ist nicht mehr fähig, einen positiven Beitrag zur Regierungsarbeit zu leisten. Wir setzen nur auf Blockade, was uns bei Wahlen mit geringer Beteiligung nutzt, aber wir werden nie wieder einen US-Präsidenten stellen, weil das Land jünger, bunter und vielfältiger wird." Das ist ihre Zukunft, wenn sie nichts ändern.

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Von Matthias Kolb, Des Moines/Iowa

Was denkt man im Silicon Valley über die Rolle der Regierung im Alltag?

Die Leute reden eher schlecht über den Staat. Im März starb Andy Grove, der frühere Chef von Intel, mit 79: Er war eine Ausnahme und lobte den Staat. Das hatte mit seinem Leben zu tun: Grove flüchte aus Ungarn und studierte nahezu kostenlos am City College in New York und in Berkeley. Seine Karriere begann bei "Fairchild Semiconductors", einer Firma, die davon profitierte, dass die Nasa und das Verteidigungsministerium die Computerindustrie fördern wollten. Fairchild war ein Privatunternehmen, aber mehr als 80 Prozent ihrer Halbleiter wurden vom Militär bestellt.

War es außergewöhnlich, dass Fairchild vom Staat abhängig war?

Überhaupt nicht. Laut einer Brookings-Studie wurden 18 der 25 wichtigsten Entdeckungen der Computerwissenschaft zwischen 1946 und 1965 vom Staat finanziert. Zudem wurde alles getan, um mehr Leute an die Colleges zu bringen: Der Anteil der Unter-30-Jährigen mit einem Uni-Abschluss schoss von fünf Prozent 1940 auf etwa 25 Prozent in den Siebzigern. Davon profitieren wir noch heute. Im Silicon Valley denken viele, dass der Staat Innovationen behindere. Steve Jobs war bekannt dafür, die Regierung für ihre Unfähigkeit zu verachten. Aber er hätte Apple nie zur wertvollsten Firma der Welt machen können, wenn die Öffentlichkeit nicht so viele Ingenieure ausgebildet hätte - und fast jede Technik, die er nutzte, wurde vom Staat gefördert oder entwickelt.

Es ist nicht leicht, sich heute in den USA für mehr Einfluss der Regierung einzusetzen. Sie und Ihr Co-Autor Paul Pierson wirken aber noch immer sehr gut gelaunt und optimistisch.

Ja, wir sind Optimisten. Regierungen haben früher für so viele Verbesserungen gesorgt und tun das noch heute. Wir machen nur nicht so große Fortschritte, wie wir könnten. Anderswo absolvieren heute mehr junge Leute ein Hochschul-Studium - das wird den USA langfristig schaden. Im Gesundheitsbereich zum Beispiel, da ließe sich viel sparen. Das Geld könnte in andere Bereiche investiert werden. Außerdem noch etwas positives: Die Erkenntnis, dass etwas schief gelaufen ist, setzt sich immer mehr durch. Immer mehr Geschäftsleute fordern Investitionen in Brücken und Straßen, doch die Republikaner im Kongress blockieren alles. Wir hoffen, dass die Wähler nach der Lektüre unseres Buchs mit ihren Abgeordneten über unsere Vorschläge reden, damit es mit den USA schneller voran geht.

Dass die Amerikaner wachsen und wieder das größte Volk werden, ist ja nicht so wichtig.

Wichtiger wäre, das Problem der Fettleibigkeit besser zu bekämpfen. Paul Pierson macht gern den Witz, dass wir Amerikaner immer noch die Größten sind - aber nur, wenn alle auf dem Rücken liegen.

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Von Matthias Kolb, Washington

Linktipps:

* Für den Atlantic haben Jacob Hacker und Pauk Pierson am Beispiel des verstorbenen Intel-Chefs Andy Grove beschrieben, wieso das Silicon Valley die Rolle des Staats nicht schlecht reden sollte.

* Was den Republikaner George Romney von seinem Sohn Mitt unterscheidet, hat das Autorenduo in diesem Text für die Washington Post beschrieben.

* In diesem SZ-Interview erklärt Jacob Hacker, wieso die USA ihre reichen Bürger so sehr verwöhnen wie kein anderes Land der Welt.

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