Interview mit Jeremy Adler:EU-Türkei-Deal : "Dieses Tauschverfahren ist nichts anderes als Menschenhandel"

Interview mit Jeremy Adler: Die EU, kritisiert Jeremy Adler, breche ihre eigenen gesetze, indem sie Flüchtlinge auf Inseln wie Lesbos einsperre. Dort kam dieses Flüchtlingskind im Februar an.

Die EU, kritisiert Jeremy Adler, breche ihre eigenen gesetze, indem sie Flüchtlinge auf Inseln wie Lesbos einsperre. Dort kam dieses Flüchtlingskind im Februar an.

(Foto: AFP)

In einem offenen Brief üben knapp 60 prominente Intellektuelle schwere Kritik am EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen, unter ihnen der britische Germanist Jeremy Adler. Ein Gespräch über die Frage, ob die EU gescheitert ist.

Interview von Paul Munzinger

Am Mittwoch hat die EU-Kommission vorgeschlagen, Visafreiheit für türkische Staatsbürger in der EU einzuführen - ein elementarer Bestandteil des Flüchtlings-Abkommens, den sie mit Ankara geschlossen hat. Am Tag zuvor hat der britische Schriftsteller und Germanist Jeremy Adler, geboren 1947 in London, gemeinsam mit knapp 60 Intellektuellen und Künstlern - unter ihnen Alfred Brendel, Durs Grünbein, Gertrud Leutenegger, Navid Kermani und Fritz Stern - einen offenen Brief an die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel geschickt. "Als Autoren, Wissenschaftler und Künstler sind wir verpflichtet, im Sinne der Menschenrechte zu handeln", schreiben die Autoren. "Es obliegt uns daher, unsere Position zur Flüchtlingspolitik der EU zum Ausdruck zu bringen." Was folgt, ist eine vernichtende Kritik am EU-Türkei-Abkommen, die es in dieser Deutlichkeit bisher kaum gegeben hat. Aus Brüssel haben die Verfasser noch keine Antwort erhalten.

Herr Adler, was kritisieren Sie an dem Flüchtlingsabkommen, das die EU mit der Türkei getroffen hat?

Das Abkommen verstößt gegen internationales Recht, gegen die UN-Charta, gegen das UN-Protokoll. Und er missachtet die Richtlinie 2001/55 des Europäischen Rates, die die Mitgliedstaaten, so heißt es wörtlich, "im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen" auf ein menschenwürdiges Vorgehen verpflichtet.

Sie schreiben, das Abkommen sehe vor, "'irreguläre' Asylsuchende aus Griechenland in die Türkei zu 'deportieren'". Eine drastische Wortwahl.

Der Begriff "irregulär" stammt nicht von mir, sondern von der EU. Und was dort passiert, also die Überweisung einer Person aus der EU in die Türkei, ist eine Deportation. Das Wort beschreibt in diesem Fall den rechtlichen Zustand.

Jeremy Adler

Jeremy Adler

(Foto: Privat)

Noch ein schwerer Vorwurf, noch ein drastisches Wort: Die EU mache sich einer Art von "Menschenhandel" schuldig.

Was das Abkommen vorsieht, ist ein Tauschgeschäft. Menschen werden gegen bestimmte Güter für die Türkei eingetauscht. In diesem Fall handelt es sich nicht um Geld oder Waren, sondern um Visa-Erleichterungen, die Erweiterung der gemeinsamen Zollunion und die Beschleunigung der Beitritts-Gespräche. Dieses Tauschverfahren ist nichts anderes als Menschenhandel.

Die EU habe "die Werte kompromittiert, die ihre Daseinsberechtigung ausmachen", schreiben Sie. Und weiter: "Alles Gute, das in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg mühsam erarbeitet wurde, um eine Wiederholung des größten Unrechts aller Zeiten zu verhüten, hat man aufs Spiel gesetzt." Ist die EU an der Flüchtlingskrise gescheitert?

Nein, sie ist noch nicht gescheitert. Aber die Gefahr ist groß.

In Brüssel sagen viele: Besser ein Deal mit Schwächen als gar kein Deal.

Man muss genau überlegen, was für ein Abkommen man sich erarbeitet. Hätte man sich an die EU-Richtlinie 2001 gehalten, dann gäbe es diese Situation nicht. Wenn die EU sich an ihre eigenen Vorgaben gehalten hätte, dann hätte sie dieses Abkommen nicht machen dürfen.

Wie sähe eine Antwort auf die Flüchtlingsfrage im Sinne der Menschenrechte aus?

Die EU müsste endlich eine gemeinsame Politik entwickeln, um solchen Massenphänomenen beizukommen. Sie braucht eine europäische Flüchtlingsbehörde. Das ist bisher versäumt worden. Stattdessen sperrt sie die Flüchtlinge auf einer Insel wie Lesbos ein und bricht so ihre eigenen Gesetze. Und sie bringt die Flüchtlinge in ein Land, in dem sie womöglich in Gefahr sind. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass die Türkei an der Grenze auf Flüchtlinge schießen lässt, auch auf Frauen und Kinder. Die Türkei ist kein sicheres Land.

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