Diskussion über neue Fußball-Kennzahl:Hat jemand "Packing" gesagt?

Diskussion über neue Fußball-Kennzahl: Neues Spielzeug: Matthias Opdenhövel, Stefan Reinartz und Mehmet Scholl (v.l.n.r.) analysieren bei der EM 2016 in der ARD die Packing-Rate von Toni Kroos im Spiel Deutschlands gegen die Ukraine.

Neues Spielzeug: Matthias Opdenhövel, Stefan Reinartz und Mehmet Scholl (v.l.n.r.) analysieren bei der EM 2016 in der ARD die Packing-Rate von Toni Kroos im Spiel Deutschlands gegen die Ukraine.

(Foto: Screenshot sportschau.de)
  • Die ARD setzt bei ihrer EM-Berichterstattung auf eine neue Kennzahl - das "Packing".
  • Der Wert erfasst nicht bloß die Pässe, die den Mitspieler erreichen, stattdessen geht es um die Anzahl der Gegenspieler, die durch den Pass überspielt werden.
  • Das ZDF hält hingegen weiterhin Erklärungen eines Experten am Touch-Screen für die bessere Methode, Spiele zu analysieren.
  • ARD-Experte Mehmet Scholl und sein ZDF-Pendant Oliver Kahn bewerten das neue Analyse-Instrument unterschiedlich.

Von Paul Katzenberger

Das ZDF war gestern dran, heute berichtet wieder die ARD vom aktuellen Spieltag der laufenden Fußball-Europameisterschaft. Damit wird auch wieder der Begriff "Packing" fallen. Ein Terminus, der die vielen statistischen Werte, die seit Jahren zur Fußball-Berichterstattung zählen, seit Neuestem um eine weitere Größe ergänzt.

Im Gegensatz zu Messgrößen wie "Passquote", "Ballbesitz" oder "gewonnene Zweikämpfe" redet bislang nur die ARD von der "Packing"-Quote, während das ZDF seine Zuschauer diesbezüglich unaufgeklärt lässt.

Das liegt daran, dass das Erste im Gegensatz zur Konkurrenz aus Mainz über die entsprechenden Statistiken verfügt. Das neue Analyse-Tool ist noch nicht lange auf dem Markt. Es stammt von Ex-Profi Stefan Reinartz, der im Jahr 2014 mit seinem früheren Mannschaftskollegen Jens Hegeler, der heute für Hertha BSC spielt, die Firma Impect gründete. Sie ziehen andere Kriterien heran als herkömmliche Statistikdienste.

Qualität statt Quantität

Unter anderem werden nicht mehr bloß die Pässe gezählt, die den Mitspieler erreichen, sondern die Anzahl der Gegenspieler, die durch den Pass überspielt werden. Es geht also um den Faktor Produktivität, das Prinzip orientiert sich an Qualität statt an Quantität. Bei der Bewertung wird außerdem zwischen den Zonen differenziert, in denen die Bälle den Abnehmer erreichen: So ist es wichtiger, gegnerische Abwehrspieler als gegnerische Stürmer zu überspielen.

Anlass, diese neue Betrachtungsweise zu entwickeln, war für Reinartz die Halbfinal-Begegnung zwischen Deutschland und Brasilien bei der Weltmeisterschaft 2014. Obwohl Brasilien bei den traditionellen Kenngrößen vor Deutschland lag, ging das Spiel für die Südamerikaner krachend verloren. Am Ende hieß es aus ihrer Sicht 1:7. Die Statistiken gaben in diesem Fall nicht im Entferntesten Aufschluss über die Effizienz.

Wäre die Packing-Rate damals hingegen schon erfasst worden, hätte sich das Ergebnis darin ablesen lassen: Deutschland überspielte mit Pässen 402 Spieler des Gegners, davon 84 Verteidiger, Brasilien nur 341 Spieler, davon 53 Verteidiger.

Reinartz' Firma ist aussichtsreich ins freie Wirtschaftsleben gestartet: Neben der ARD zählen der DFB, Bayer Leverkusen, Borussia Dortmund und RB Leipzig zu den Kunden. Nach dem Ukraine-Spiel der deutschen Mannschaft erläuterte Reinartz seine neue Methodik im Gespräch mit Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl und sang dabei ein Loblied auf die "Packing"-Qualitäten des deutschen Regisseurs Toni Kroos. So werden Helden zu Super-Helden.

Das ZDF ließ sich hingegen nicht von Reinartz' Analyse-Software überzeugen: "Wir haben uns für die Analysen von Holger Stanislawski mit Touch-Screen-Elementen entschieden", sagte ein ZDF-Pressesprecher SZ.de: "Wir haben mit diesem Format seit unserer Zusammenarbeit mit Jürgen Klopp sehr gute Erfahrungen gemacht."

Das ist ein Wort, denn bevor Jürgen Klopp mit Borussia Dortmund die Bundesliga aufmischte, hatte er sich schon mit seinen pfiffigen Analysen in die Herzen der ZDF-Zuschauer hineinmoderiert.

Es steht also die Statistik gegen das menschliche Element, und dass da die Meinungen von einander abweichen, ist logisch. Neben den gemischten Reaktionen, die die neue Messgröße in den sozialen Netzwerken nach sich zog, ...

...bewerteten auch die zwei Fußball-Experten, die jeweils für ARD und ZDF die Europameisterschaft kommentieren, das neue Analyse-Werkzeug unterschiedlich.

ARD-Kommentator Mehmet Scholl lobte, dass er bei der EM mit der Packing-Rate arbeiten könne. "Das ist ein Parameter, den es so noch nicht gibt und der als einziger eine wirkliche Aussagekraft über den Ausgang eines Spiels hat."

Die Replik von ZDF-Experte Oliver Kahn folgte auf dem Fuße. Offensichtlich verspricht sich der "Titan" nicht allzu viel von der neuen Analysemethode. Denn während das favorisierte Belgien vergeblich versuchte, mit weiten Pässen und damit bestem "Packing" die Auftaktniederlage gegen Italien abzuwenden, setzte er diesen maliziösen Tweet ab:

Nach der Partie spöttelte der ehemalige Nationaltorhüter direkt in Richtung seines Ex-Mitspielers Mehmet Scholl:

Ob und wie Mehmet Scholl heute Abend darauf reagiert, ist die nächste spannende Frage in dieser Causa, bei der es vielleicht gar nicht mehr so sehr um die Aussagekraft der neuen Kenngröße geht. Denn wenn sich zwei ewige Helden des deutschen Fußballs vor der Fernsehnation kabbeln sollten, dann wäre das per se ja schon ein Gewinn für das schaulustige Publikum.

Die ARD will den Einsatz der "Packing"-Werte jedenfalls erst nach der EM beurteilen: "Wir werden anschließend entscheiden, in welchem Umfang diese Datenerhebung weiter in der Fußballberichterstattung der ARD eingesetzt wird", teilte der Senderverbund auf Anfrage mit.

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