Erbfolge:Der Letzte macht den Stall zu

Volo SZ

Landwirt Haggenmüller füttert seinen Kühen das, was seine Bergwiesen hergeben: frisches Gras.

(Foto: Matthias Ferdinand Doering, foto)

Die Haggenmüllers sind Landwirte im Allgäu, seit vielen Generationen. Nun geht diese Tradition zu Ende - mangels Nachfolger. Über Eltern, die keine Chance sehen, das Erbe an ihre Kinder weitergeben zu können.

Von Christoph Dorner und Markus Mayr

Vier Bauernhöfe und eine Kapelle zählte der Weiler Winnings im Oberallgäu einmal. Und es waren stolze Höfe, allesamt. Im ersten Hof wohnen heute zwei Familien, die Käserei gibt es nicht mehr. Der zweite und dritte Hof wurden von Junggesellen geführt. Sie mussten die Landwirtschaft im hohen Alter aufgeben.

Nur Wilhelm Haggenmüller, der hatte auf Hof Nummer vier vermeintlich vorgesorgt. Er hatte seine Karola geheiratet, ein Mädchen aus einer Bauernfamilie. Sie hatten drei Kindern bekommen, drei Töchter, immer sorgsam gewirtschaftet, sich nie finanziell übernommen. Und doch ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es bald keine Bauernfamilie mehr in Winnings gibt.

Sieben Tage die Woche, winters wie sommers

Die Haggenmüllers haben den Hof von Generation zu Generation weitergegeben, 500 Jahre ging das so. Um 1600 hat es einer der Vorfahren zum Schreiner der Fürstabtei in Kempten gebracht, seitdem ist es für die Leute der Schreiner-Hof. Als Wilhelm Haggenmüller den Betrieb als ältestes von sechs Kindern übernahm, rechnete er nicht damit, dass die Familiennachfolge ausgerechnet mit ihm enden könnte.

Der hagere Mann ist 59 Jahre alt. Die mühsame Arbeit im Stall, sieben Tage die Woche, winters wie sommers, hat Furchen in sein Gesicht gezogen. Wenn er lacht, werden sie zu Lachfalten. "Bis 70 werde ich nicht mehr schaffen", sagt der Allgäuer in seinem Dialekt und meint mit "schaffen" arbeiten. Vorher muss Schluss sein.

Eine Erbschaft kann auch Ballast sein - für den Erblasser und für die Erben, gerade in der Landwirtschaft. Zu mühsam ist die Arbeit für die junge Generation, zu dürftig der Ertrag, das Landleben zu ruhig. Die satten Kulturlandschaften im Oberallgäu, sie zeigen es nicht, dass viele Erbfolgen abreißen. Gerhard Hallek vom Bayerischen Bauernverband sagt, dass es zwar Hofnachfolger gebe - aber gerade im Süden Bayerns würden einige Betriebe aus der Milchviehhaltung aussteigen. Der Süden, das ist vor allem auch der Landkreis Oberallgäu, in dem der Weiler Winnings liegt.

Dem Milchpreis waren alle Anstrengungen egal, er fiel einfach weiter

"Es gibt hier bei uns keine andere Möglichkeit als die Milchwirtschaft", sagt Wilhelm Haggenmüller. Oft genug hätten Bergbauern versucht, den schleichenden Tod ihrer alteingesessenen Betriebe durch Investitionen zu stoppen. Eine hofeigene Käserei sollte die Rettung bringen oder die Kälbermast. Dem Milchpreis waren all die Anstrengungen egal, er fiel einfach weiter.

Wilhelm Haggenmüller weiß, dass er im Moment keine ökonomischen Argumente hat, um eines seiner Kinder zu überzeugen, den landwirtschaftlichen Betrieb zu übernehmen. Er und seine Frau Karola haben bereits ihren Frieden damit gemacht, dass sie als die letzten Schreiner-Bauern in die Familienchronik eingehen könnten, die als Schnellhefter in der Stube griffbereit für Oma Berta liegt. Keine der Töchter wird den Betrieb übernehmen. Sie haben mit ihrem Leben anderes im Sinn.

Noch wollen die Haggenmüllers die Hoffnung aber nicht aufgeben: Vielleicht überlegt es sich eine der drei Töchter ja doch noch. Vielleicht lacht sich ein Allgäuer Bauernsohn eines der Mädchen an. Der Großvater weigert sich ohnehin zu sterben, solange die Nachfolge nicht geklärt ist. Die jüngste Tochter macht gerade Abitur, die älteste wohnt immerhin in der Nähe, in Kempten.

In den Heimatfilmen der ARD, die auch im Allgäu gedreht werden und in denen die Familiengeschichten noch immer gut ausgehen, kehren die Kinder irgendwann alle nach Hause zurück. Ausgebrannt, beruflich gescheitert, oder vom Partner sitzen gelassen, schlagen sie voller Missmut und Widerwillen in der alten Heimat auf. Und finden ihre eigentliche Bestimmung.

Auch Patrizia, die zweite von drei Töchtern der Haggenmüllers, sagt, sie wisse schon mit 25 Jahren, wie es sich im Hamsterrad des Lebens anfühlt. Während sie bis spät in die Nacht hinein noch am Computer für ihr Studium arbeiten muss, sind ihre Eltern zu dieser Zeit längst aus dem Stall gekommen und genießen ihren Feierabend. Ein Leben als Bäuerin kann sich Patrizia trotz der geregelten Zeiten nicht vorstellen. Auch wenn sie selbst Hunderte Kilometer von ihrer Heimat entfernt manchmal den Duft von frisch getrocknetem Heu in der Nase hat. Mit ein bisschen Wehmut.

Verkaufen kommt nicht infrage

Am Gymnasium in Kempten waren die Töchter die Bauernkinder gewesen, die von einem Schulbus von den verstreuten Höfen eingesammelt wurden. "Für unsere Mitschüler waren wir einfach nicht cool", sagt Patrizia. Nach dem Abitur zog es sie in die große Stadt. Sie wollte unbedingt nach Berlin oder Hamburg und landete in Kaiserslautern, später in Kassel. Dort studiert sie Stadtplanung, ausgerechnet. Momentan nimmt Patrizia mit Kommilitonen an einem Ideenwettbewerb für ein neues Stadtviertel im Norden Berlins teil. Auf 70 Hektar sollen einmal 5000 Wohnungen für 10 000 Menschen entstehen, eine Gartenstadt des 21. Jahrhunderts. Die Fläche, die ihre Eltern mit Händen und ein paar Maschinen bewirtschaften, ist halb so groß, ein Relikt der vergangenen Jahrhunderte.

Das Ehepaar Haggenmüller kann heute gar nicht sagen, wie viele Generationen vor ihnen bereits diese Wiesen gemäht haben, die ihren Hof umgeben. Wären die beiden wirklich die Letzten, sie würden die Flächen verpachten. Den Hof aber, den wollen sie behalten. Verkaufen kommt nicht infrage. Dort, wo sie ihr ganzes Leben verbracht haben, da wollen sie auch im Alter bleiben. Wenn schon nicht den landwirtschaftlichen Betrieb, dann wird eine der Töchter doch das Wohnhaus mit Garten und Kapelle übernehmen - es ist die eigentliche Wette der Haggenmüllers auf die Zukunft.

Das Ehepaar hätte investieren können. Doch sie fügten sich ihrem Schicksal

Die Kapelle baute ein Urahn der Familie zum Dank dafür, dass er den Bauernkrieg von 1525 überlebte. Das kleine Gotteshaus mit dem Glockentürmchen gehört zum Hof wie das Vieh im Stall. Doch die Kapelle wird bleiben. Die Kühe werden irgendwann abgeholt werden, wenn der Betrieb schließt. Die Logik der Marktwirtschaft fordert Wachstum. Doch größer wollte der Landwirt nie werden. Zur Hof-Übernahme vor 30 Jahren baute er den Stall aus. Seitdem stehen darin 35 Milchkühe, Allgäuer Braunvieh. Wenn die Tiere auf die Weide sollen, stehen die Haggenmüllers mit Fähnchen auf der Straße, fürsorglich wie Schülerlotsen.

Das Ehepaar hätte in einen größeren Laufstall und einen Melkroboter investieren können, um mehr als 700 Liter Milch täglich zu erzeugen. Doch sie haben das Dilemma durchschaut. Noch mehr Milch auf dem Markt triebe den Preis auch nicht nach oben. Also werden sie sich dem Schicksal der Region fügen. Aus Altersgründen, aus wirtschaftlicher Sicht.

Vielleicht klappt es in Rente dann auch öfter mit dem Urlaub. Nach ihrer Hochzeitsreise 1987 nach Österreich haben Wilhelm und Karola Haggenmüller 22 Jahre keinen Urlaub gemacht. Würde aber eine der Töchter den Hof weiterführen - Wilhelm Haggenmüller stünde am Ende doch wieder um halb sieben Uhr morgens mit im Stall.

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