Archäologie:"Der König wollte alles verfügbare Wissen haben"

Archäologie: Natürlich ritt Assurbanipal auf rassigen Pferden und kämpfte gegen Löwen, so wie es Könige halt tun. Bemerkenswert aber: Im Gürtel des Herrschers stecken zwei Schreibstifte.

Natürlich ritt Assurbanipal auf rassigen Pferden und kämpfte gegen Löwen, so wie es Könige halt tun. Bemerkenswert aber: Im Gürtel des Herrschers stecken zwei Schreibstifte.

(Foto: British Museum)

Vor 2700 Jahren baute der assyrische König Assurbanipal die größte Bibliothek der Welt auf. Er hatte erkannt: Wissen ist Macht.

Von Hubert Filser

Es ist ein Ort, wie ihn der Schriftsteller Umberto Eco geliebt hätte, still, mit vielen geheimnisvollen Winkeln. Links und rechts eines langen Ganges gehen Nischen ab. Rote Leiterwagen stehen darin, über sie steigt man wie auf einer Gangway zu den Regalen mit bis zu zehn Metern Höhe hinauf. Bis 1998 war hier die British Library untergebracht. Doch heute lagern in den Nischen in hölzernen Einschüben mit fünfstelligen Nummern die Überreste der legendären Bibliothek von Ninive: 32 000 Tontafeln, die älteste erhaltene Textsammlung der Welt und die weitaus größte ihrer Zeit. Zusammentragen ließ sie der assyrische König Assurbanipal, der von 669 bis 631 / 627 vor Christus das erste Imperium der Menschheitsgeschichte führte.

Jahrelang ist die Bibliothek mit großem Aufwand digitalisiert worden. Jetzt haben Experten um Jon Taylor, dem Kurator dieser Keilschriftsammlung am British Museum, die letzten Tontafeln hochauflösend gescannt und damit ihr Mammutprojekt abgeschlossen. Die 2700 Jahre alten Dokumente geben nicht nur einen Einblick in den Alltag des ersten Weltreichs der Menschheitsgeschichte. Sie zeugen auch von einer großen Idee: Erstmals erkannte ein Herrscher, dass Wissen die Macht sichern und vergrößern kann.

Seine große Bibliothek ließ König Assurbanipal im Nordwestteil seines Palasts anlegen, sie war gefüllt mit staatlichen Dokumenten, Literatur, juristischen und wissenschaftlichen Texten. Medizinische Schriften finden sich genauso darin wie Beschreibungen seltsamer Orakel, uralte Gesetzestexte oder das Gilgamesch-Epos, eines der frühesten Werke der Weltliteratur. Dabei gab es viele Texte in mehrfacher Ausführung zum Ausleihen.

Entdeckt hat die Bibliothek der britische Abenteurer Henry Layard, als er im Jahr 1849 an den Ufern des Flusses Tigris auf einem Hügel die Überreste der verschollenen Stadt Ninive aufspürte. Die Texte hatten die Jahrhunderte und den Brand des Palastes überlebt, weil viele von ihnen auf Tontafeln statt auf Papyrus geschrieben waren. Nur deshalb können heute junge Forscher an langen Tischen im Mittelgang der Bibliothek mit dem Material arbeiten. "Längst nicht alle Tafeln sind übersetzt", sagt Jon Taylor. "Das unterste Drittel des Raums hier ist mit Texten aus Ninive gefüllt." Auch der Rest des Raumes gehört den Tontafeln, darunter die ältesten Schriftzeugnisse der Menschheitsgeschichte, Keiltafeln aus der sumerischen Königsstadt Uruk, mehr als 5200 Jahre alt.

Taylor zeigt die dicken, alten Bände aus dem 19. Jahrhundert, in denen zum ersten Mal alle Keilschrifttafeln aus Ninive erfasst wurden. Jedes einzelne der 32 000 Bruchstücke ist mit einer kurzen Notiz bedacht, darin sind Größe, Anzahl der Textzeilen und der grobe Inhalt beschrieben. "Eine Meisterleistung", sagt Taylor. "Das hat damals ein Mensch alles gelesen. Unglaublich." Immer wieder verschreiben sich Forscher dieser Bibliothek, so wie der 2010 verstorbene Assyriologe Riekele Borger von der Universität Göttingen, der mehr als 40 Jahre lang an den Tafeln arbeitete. Oder aktuell die Tübinger Forscherin Jeannette Fincke.

Die Digitalisierung könnte weitere Erkenntnisse bringen. Mit Hilfe modernster Technologien lassen sich Bruchstücke zu DIN A4 großen Tafeln zusammenfügen. Texterkennungssoftware könnte zudem Schreibstile der Bibliothekare erkennen. So ließe sich etwa ermitteln, wie viele Schreiber der König einst beschäftigte.

Die Bibliothek machte Ninive zum Zentrum der damaligen Welt

Noch verstehen die Forscher nicht im Detail, wie die Bibliothek funktionierte und wie viele Menschen Zutritt hatten. Es gibt umfangreiche Inventarlisten, die knappe Informationen über Inhalt, Verfasser, Entstehungsort und -zeitpunkt eines Textes enthalten. Vermerkt ist darin auch, ob ein Dokument ein Original oder eine Abschrift ist. Und welche Texte heute verschollen sind, lässt sich so ebenfalls herausfinden. "Wir stehen erst am Anfang", sagt Jon Taylor. "Die Lücken verraten uns, wie immens groß die Bibliothek einst gewesen sein muss. Sie war mehr als hundertmal größer als alles, was wir bis dahin kannten." Taylor macht eine Pause. Dann sagt er: "Der König wollte alles verfügbare Wissen haben. Und er hat alles gelesen. Wirklich alles. Denn er wusste: Wissen ist Macht."

Nicht zuletzt deshalb war Ninive das Zentrum der damaligen Welt. Stephanie Dalley vom Orientalischen Institut der Universität Oxford verortet dort sogar die Hängenden Gärten der Semiramis, errichtet kurze Zeit vor Beginn von Assurbanipals Regentschaft. Das geheimnisvollste der antiken sieben Weltwunder wäre demnach ganz in der Nähe der Bibliothek gelegen. Basis für die legendären grünen Oasen war ein technisch ausgeklügeltes Wasserversorgungssystem, gespeist von einem gewaltigen Aquädukt. Das assyrische Reich brachte eine Reihe moderner Errungenschaften hervor, das Postwesen beispielsweise mit seinem weitverzweigten Netz an Stationen.

Archäologie: Jahrelang haben Experten des British Museum Assurbanipals Tontafeln digitalisiert.

Jahrelang haben Experten des British Museum Assurbanipals Tontafeln digitalisiert.

(Foto: British Museum)

Das Wissen aus der Bibliothek stand hinter vielen dieser Innovationen. So konnten die Assyrer bereits Glas herstellen: "Nimm 60 Teile Sand, 180 Teile Asche aus Meerespflanzen und 5 Teile Kreide, und du erhältst Glas." Dabei mussten die richtigen Opfer dargebracht werden: Honig, flüssige Butter, Räucherstäbchen mit Wacholderduft und ein Schaf. Die Assyrer produzierten Glas in großen Mengen, vor allem blaues für Schmuck und Götterstatuen.

Viele Bereiche der gigantischen Textsammlung beschäftigen sich mit zentralen Fragen. Eine runde Himmelstafel mit Fixsternen und Sternbildern zeugt vom Interesse für Astronomie, eine Kopie des Codex Hammurapi, einer fast viertausend Jahre alten Gesetzessammlung, vom Nachdenken über gesellschaftliche Normen.

Der König Assurbanipal selbst nutzte seine Bibliothek aktiv, versah Texte mit persönlichen Notizen. Und er tat alles dafür, dass seine Bibliothek ständig wuchs. Auf Eroberungen holte er sich die Tontafelsammlungen aus anderen Palästen. Er schickte seine Schreiber in die entlegensten Ecken seines Reichs, sie sollten dort jeden Text kopieren, der ihnen wichtig erschien, und in großen Tempeln Abschriften der Archive erstellen. Dass es hier einen gewissen Druck gab, zeigen Briefe an den Palast. Einer der königlichen Statthalter sandte die Eilmeldung: "Ich brauche einen Schreiber! Bitte den König, mir einen Schreiber zu schicken!"

Wie wichtig dem Herrscher das Schreiben war, zeigt auch ein Rundgang durchs British Museum. Im Erdgeschoss finden sich Wandreliefs, die einst die Wände des Königspalastes von Ninive zierten. Zwar zeigen sie auch Propagandabilder, die noch die heutigen Potentaten schätzen: Der König kämpft mit Löwen, reitet auf rassigen Pferden, stürmt als Feldherr in die Schlacht. Doch bemerkenswert sind vor allem die Details in der Darstellung des Herrschers. Beim Kampf mit den Löwen trägt Assurbanipal im Gürtel nicht etwa ein Schwert, sondern zwei einfache Schreibstifte, wie man sie für die Keilschriftzeichen benötigte.

Sogar Mädchen lernten am Hof des Königs das Schreiben

Der König selbst konnte schreiben. An seinem Hof lernten sogar die Mädchen, Keilschrifttexte zu verfassen, was damals ungewöhnlich war. Nur Assurbanipals Frau schien keine rechte Begeisterung dafür entwickelt zu haben - und wurde prompt von der Schwester des Herrschers ermahnt: "Warum schreibst du nicht auf deiner Tafel und machst deine Hausaufgaben?"

Doch ging es dem König nicht nur darum, möglichst viel Wissen anzusammeln. Offenbar zog er auch seine persönlichen Schlüsse daraus. Sogar aus Praktiken, die heute ziemlich skurril anmuten. Der König ließ nämlich sogenannte Schaf-Omina ausrichten. Elf ausgewählte Personen sollten dabei die Leber eines Schafes (es konnten auch andere Organe sein) nach einem festen Kriterienkatalog beurteilen. Es ging dabei um die Beantwortung einer für den König wichtigen Frage. Die konnte von staatstragender Bedeutung sein, etwa ob der Zeitpunkt günstig sei für einen Angriff auf das mächtige Ägypten. Es konnte aber auch um die Vermählung einer Tochter gehen oder um die Frage, welches Kraut man bei Blähungen zu sich zu nehmen sollte.

Leicht könnte man sich heute über derlei Gebaren lustig machen. Was soll schon die Leber eines Schafs darüber aussagen, ob man ein Nachbarland angreifen soll! Dabei würde man jedoch die Funktion dieses Rituals verkennen. Beim Reden über eine Schafleber gaben die Berater nämlich auch alles Wissen über einen Sachverhalt weiter. Der Herrscher konnte so alle Informationen abgreifen - und hielt trotzdem die Fäden in der Hand. Er konnte das Schafurteil ignorieren und die Zeremonie nochmals abhalten lassen. Oder sich nach dem Urteil richten und, sollte es sich später als falsch herausstellen, auf die göttliche Verantwortung verweisen.

Die medizinische Abteilung der Bibliothek lieferte aber auch ohne Orakel Rat. Sie enthielt Beschreibungen zahlreicher Erkrankungen, etwa verschiedener Arten von Kopfschmerz, sogar Migräne ist erwähnt, die Assyrer nannten sie "Kopfkrankheit". Wie überhaupt in dieser Zeit erstmals das Phänomen Krankheit als etwas benannt wurde, das sich behandeln lässt. Man könnte sagen, dass damals sogar die moderne Medizin ihren Anfang nahm, auch wenn die Krankheiten in der Regel bösen Geistern zugeschrieben wurden. Die Heilungsvorschläge waren dennoch konkret: "Binde die Abquetschung eines Wacholders um den Kopf", steht als Anweisung gegen Kopfschmerz. In "Wenn ein Mensch Zahnschmerzen hat" findet sich der Rat: "Emmer-Mischbier, gebrochenes Malz und Sesamöl vermengst du miteinander, die Beschwörung rezitierst du dreimal darüber und legst (das Gemisch) auf seinen Zahn." Brachte die Behandlung keinen Erfolg, zogen sie einen Exorzisten hinzu, der die bösen Geister vertreiben sollte.

Assurbanipal selbst zog gegen Ende seiner Regentschaft ein persönliches Resümee: "Die Zeichen des Himmels und der Erde sind mir vertraut", schrieb er. "Ich kann die Leber, die ein Spiegel des Himmels ist, zusammen mit anderen fähigen Experten erörtern. Ich bin in der Lage, komplizierte mathematische Probleme zu lösen, die zuvor nicht verstanden wurden." Es ist eine seltene Einsicht ins Innenleben dieses Herrn der Bücher, aufbewahrt in dieser Bibliothek im British Museum.

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