Roman von Han Kang:Selbstverzehr

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Die Koreanerin Han Kang hat mit "Die Vegetarierin" den Man Booker International Prize gewonnen. Der Roman erzählt von einer Frau, die eine neue Vorstellung vom Körper sucht.

Von Karin Janker

Wenn ein Held jemand ist, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, dann ist eine Pflanze der ideale Antiheld. Passiv, stumm, duldsam. Im Vergleich zum Menschen besteht so ein Pflanzenleben ja im Wesentlichen aus Gewaltverzicht und Konsumverweigerung. Viel mehr als Wasser und Sonne braucht man nicht. Genau danach sehnt sich die Protagonistin in Han Kangs Roman "Die Vegetarierin". Ihr selbstzerstörerisches Antiheldentum gründet in dem Wunsch, sich in eine Pflanze zu verwandeln.

Bislang führt Yeong-Hye eine Ehe, die reibungslos verläuft, weil es zwischen ihr und ihrem Mann keine Berührungspunkte gibt. Er beschreibt sie so: "Sie redete in der Regel nicht viel, bat mich selten um etwas und machte mir niemals eine Szene, egal, wie spät ich heimkam." Jedenfalls habe es keinen Grund gegeben, sie nicht zu heiraten. Er könnte sich vorstellen, auch den Rest seines Lebens neben ihr her zu leben: er als Büroangestellter, sie als Hausfrau und irgendwann Mutter seiner Kinder. Yeong-Hye ist pflegeleicht. Die Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und einer Topfpflanze wird nie wieder so deutlich wie auf den ersten Seiten des Romans. Erst danach setzt ihre Verwandlung ein. Und damit ihre Rebellion.

Wie viel Gewalt erleidet eine Frau, die ein gewaltfreies Leben führen will?

In Südkorea ist "Die Vegetarierin" bereits vor neun Jahren erschienen, zunächst in drei Teilen. Aber erst im vergangenen Jahr hat das Buch den Man Booker International Prize, eine der renommiertesten Auszeichnungen für übersetzte Literatur in Großbritannien, erhalten. Und weil die britische Presse begeistert war von dieser Autorin und ihrer schlichten, poetischen Sprache, hat nun Ki-Hyang Lee das Buch ins Deutsche übersetzt.

Die 45-jährige Han Kang ist in Südkorea bereits seit Jahren als Schriftstellerin erfolgreich, ihre Werke umkreisen Themen wie Gewalt und Trauer. Erst vor Kurzem wurde ihr Buch "Human Acts" ins Englische übertragen, in dem sie das Gwangju-Massaker verarbeitet. Auch in "Die Vegetarierin" geht es um Gewalt und um die Spuren, die sie auf dem Körper einer Frau hinterlässt: Wie viel Gewalt erleidet eine Frau, die ein gewaltfreies Leben führen will? Und wie viel Gewalt fügt sie sich auf dem Weg dorthin selbst zu?

Der Roman, der an seiner Oberfläche von einer surrealen Sehnsucht erzählt, sondiert darunter die Abgründe einer patriarchalen Gesellschaft. Die Geschichte der Antiheldin Yeong-Hye ist die Geschichte einer Verweigerung. Die drei Teile des Romans schildern drei Perspektiven auf die fortschreitende Metamorphose der Protagonistin: Zunächst erzählt ihr gleichgültiger Ehemann, dann ihr Schwager, der sie verzweifelt begehrt, und schließlich ihre Schwester, deren Alltag als erfolgreiche Geschäftsfrau und treusorgende Mutter die Gegenfolie zu Yeong-Hyes sich zersetzendem Leben bildet.

Für ihren Mann setzt die Auflösung ohne Vorwarnung ein: Von einem Tag auf den anderen beschließt Yeong-Hye, kein Fleisch mehr zu essen, bald sogar überhaupt keine tierischen Produkte mehr im Haus zu haben. Ihre Begründung - blutrünstige Träume, die sie plagen, und das Gefühl, dass sich die Seelen toter Tiere in ihrem Magen "festklammern" - löst bei ihm nur Unverständnis und Selbstmitleid aus. Ihm bleibt nur, künftig noch häufiger auswärts zu essen.

Bald will Yeong-Hye ihn nicht einmal mehr neben sich im Bett haben, weil er nach totem Tier stinkt. So fühlt er sich genötigt, sie zu vergewaltigen. Nicht sie ist aus seiner Sicht das Opfer, sondern er und seine verletzte Eitelkeit: "Sie kaute bedächtig und geräuschvoll auf ihrem Kimchi herum. Ich war aufgestanden und betrachtete sie aufmerksam. Sie jedoch schenkte mir, ihrem Mann, nicht die geringste Beachtung."

Aber nicht nur er reagiert mit Gewalt auf Yeong-Hyes Ernährungsumstellung. Das nächste Familienessen mit ihren Eltern und Geschwistern eskaliert. Der Vater, ein ehemaliger Soldat und "aufbrausender Charakter", ohrfeigt sie brutal. Mit Gewalt will er ihr Fleisch in den Mund stopfen - überzeugt davon, dass er aus väterlicher Liebe handelt: "Wenn sie einen Happen davon isst, dann wird sie auch wieder auf den Geschmack kommen. Wer verzichtet denn heutzutage auf Fleisch?"

Doch Yeong-Hye scheint für solche Argumente längst nicht mehr erreichbar. Losgelöst von ihrem Körper und seinen Bedürfnissen, konzentriert sie ihr Wollen darauf, nichts mehr zu wollen. Wie eine Magersüchtige wird sie immer dünner und dünner. Sie löst sich auf in einem Akt der Selbstbehauptung, in dem sie sich den Erwartungen der Gesellschaft entzieht. Der Roman selbst zeugt davon, wie ihm seine Protagonistin entgleitet. Keine der drei Erzählerfiguren hat Zugriff auf Yeong-Hye oder begreift sie, keine von ihnen kommt ihr nahe. Weder als Ehefrau noch als Geliebte noch als Schwester wird die Protagonistin wirklich fassbar.

Wie kann man sich für seinen Mann in eine pflegeleichte Frau verwandeln?

Yeong-Hye verweigert sich sämtlichen Rollen. So müssen auch die Leser zusehen, wie diese Frau, die anfangs nur zurückhaltend scheint und dann immer rätselhafter wird, zwischen den Zeilen entschwindet. "Wer kein Fleisch verzehrt, der verzehrt sich selbst!", ruft Yeong-Hyes Mutter einmal entsetzt. Sie wird auf gewisse Weise recht behalten: Ihre Tochter verzehrt sich selbst, um sich ganz zu gehören.

Die drei Teile fügen sich zu einem Ganzen, in dessen Zentrum die Hauptfigur als Leerstelle bleibt. Darin, dass er diese Leerstelle nicht zu füllen versucht, liegt eine Stärke des Romans. Die Protagonistin ist nicht nur für den Ehemann "eine Fallgrube ohne Boden". Hier kennt keiner den anderen, weil keiner den anderen zu ergründen versucht. Auch die Sprache versagt, weil sich Wesentliches nicht mehr über sie mitteilen kann. Am Ende kommt von der zwangsernährten Yeong-Hye nur noch ein Gurgeln, aus dem schließlich ein letzter Wunsch herauszuhören ist: "Ich . . . will nicht! Ich will nicht . . . essen!" Und die Frage: "Ist es denn verboten zu sterben?"

Aus der Perspektive ihrer Schwester wirkt Yeong-Hye, "als handle es sich um einen kaputten Wecker oder ein defektes Küchengerät". In einer Welt, in der jeder zu funktionieren hat, stellt sich die mutwillige Funktionsuntüchtigkeit als die wirksamste Art aufzubegehren heraus. Darin ist Yeong-Hye ein Bartleby des 21. Jahrhunderts. Während Melvilles Schreiber, der "lieber nicht möchte", sich im 19. Jahrhundert der Arbeitsverweigerung hingibt, bleibt der Frau in der patriarchalen kapitalistischen Gesellschaft der Konsumverzicht als Akt des Aufbegehrens. Wie bei "Bartleby" fehlt auch hier ein objektiver Erzähler, der die Verweigerung erklären könnte. Das macht die Rebellion so subversiv: Weil man sie nicht verstehen kann, lässt sie sich weder wegargumentieren noch stoppen.

Als weiblicher Bartleby bezieht Yeong-Hye die Verweigerung auf ihren Körper. Als sie abmagert, verschwinden nach und nach ihre Brüste, ihr Po wird knochig, und ihr anorektischer Körper verliert nicht nur sämtliche weiblichen Attribute, sondern auch jegliches sexuelle Verlangen. Sie streift ihr Fleisch ab und damit auch die Erwartungen, die an sie als Ehefrau, Tochter und Geliebte gestellt werden. Weil sie nicht länger als Körper existieren will, sucht sie eine neue Identität als Pflanze.

Beinahe sieht es am Ende so aus, als wollte sie die Vorstellungen ihres Mannes von einer pflegeleichten Frau erfüllen, indem sie sich tatsächlich in eine Topfpflanze verwandelt. Man hätte das Buch mit einer solchen satirischen Wendung enden lassen können. Aber noch während der Roman auf die kafkaeske Verwandlung zuzustreben scheint, verweigert er sich auch hier: Nämlich jenem magischen Realismus, den westliche Leser von sogenannter Weltliteratur erwarten. Stattdessen verlässt der Roman seine Antiheldin mit einer Frage ihrer Schwester, auf die er die Antwort zwischen den Zeilen längst gegeben hat: "Lehnt sie sich gegen etwas auf?"

© SZ vom 29.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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