Charismatische Herrschaft in der Kunst:Unter Übermenschen

Die Intendanten der deutschen Theater genießen eine weltweit einzigartige Machtfülle. Der Streit um die Berliner Volksbühne zeigt aber: Das wird wohl nicht so bleiben. Ein Blick auf das System.

Von Christopher Balme

Wenn große Namen gehen, wankt die Welt. Als Fidel Castro erkrankte oder Papst Benedikt seinen Rücktritt erklärte, waren dies Beispiele für Krisen der Nachfolge. In Deutschland kriselt's auch in Nachfolgefragen - und zwar im Reich der Stadt- und Staatstheater. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass es eine neue Meldung über den designierten Intendanten der Berliner Volksbühne, Chris Dercon, gibt. Zuletzt musste Kulturstaatssekretär Tim Renner Dercon gar gegen Angriffe aus dem Haus selbst verteidigen.

Heiner Müller sagte oft, Theater sei Krise. Wenn aber Krise der Normalzustand des Theaters ist, wie kann man dann eine echte identifizieren? Obwohl dem im internationalen Vergleich großzügig finanzierten deutschen Stadt- und Staatstheater häufig ein schlechter Gesundheitszustand attestiert wird, ist die jüngste Alarmmeldung anderer Art. Sie ist weder ökonomisch noch demografisch motiviert, die Konfliktlinien verlaufen nicht zwischen Kunst und Kulturpolitik, sondern quer durch den Betrieb und die Kunst selbst. Denn es geht um den Kopf des Systems: den Intendanten.

Der Fall Dercon ist symptomatisch, denn er hängt mit der besonderen Herrschaftsform des Intendanten zusammen. In Deutschland hat die Besetzung der Leitung großer Häuser auch durch "große" Künstler wie Regisseure oder Dirigenten eine lange Tradition. Nun installiert man nicht mit jeder Leitung auch Krisenanfälligkeit, sie muss auch nicht unbedingt während der Herrschaft des Amtsinhabers ausbrechen, überdurchschnittlich oft aber im Prozess des Übergangs, der Nachfolge.

Die Nazis legten größten Wert auf die Besetzung des Amtes mit charismatischen Künstlern

Nach Max Weber hängt die Schwierigkeit dieses Transformationsprozesses damit zusammen, dass dieses Führungsmodell auf dem Prinzip der von ihm definierten charismatischen Herrschaft beruht. Weber definiert Charisma als eine "außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit, die mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen Kräften" ausgestattet ist.

Der deutsche Intendant - seltener die Intendantin - verfügt über Machtbefugnisse, die an Theatern weltweit ohne Vergleich sind. Dies hängt mit der Entstehung des Amts im Hoftheater des 19. Jahrhunderts zusammen. Innerhalb der höfischen Hierarchie Preußens rangierte der Theaterintendant zwischen dem Hofmarschall und dem Hofjagd-Amt. Das Allgemeine Theaterlexikon vermerkte 1841: "So ist der Intendant das Mittelglied zwischen den Wünschen und Befehlen des Hofes und dem Interesse der Kunstanstalt der Kunst gegenüber", und in dieser "doppelten Verpflichtung" liege die größte Schwierigkeit für den Intendanten.

Claus Peymann (mit dem Rücken zum Fotografen) bei einer Theaterprobe

Claus Peymann, von hinten bei Proben in Westberlin 1969, ist seit langem Intendant des Berliner Ensembles. Jüngst sprang er seinem Kollegen Frank Castorf bei, der die Berliner Volksbühne verlassen soll. Künstlerisch trennt die Intendanten vieles, doch beide vereint die Überzeugung der eigenen Außergewöhnlichkeit.

(Foto: Alexander Enger/bpk)

Dies ändert sich nach 1918 mit der Umwandlung der Hoftheater in Staatstheater. Der langjährige Direktor Otto Falckenberg wurde erst nach 1933 zum Intendanten der Münchner Kammerspiele berufen, als das renommierte Privattheater kommunalisiert wurde. Seine Berufung als Intendant und die Kommunalisierung der Kammerspiele wiederum fügen sich in ein Muster ein, das grundlegend für die Machterweiterung des Amtes in der NS-Zeit wurde.

Es steht außer Frage, dass die führenden Nazis - Hitler, Göring, Goebbels - auf die Besetzung von Intendantenposten in der politischen Hauptstadt Berlin und der "Hauptstadt der Bewegung", München, allergrößten Wert legten. Man könnte behaupten, dass das charismatische Prinzip bei der Besetzung oberstes Gebot war: Ein Charisma, das nur aus der künstlerischen Betätigung resultieren konnte. So wurde in Berlin der Schauspieler und Regisseur Gustav Gründgens und der Dirigent Clemens Krauss an der Bayerischen Staatsoper in München berufen.

Diese Fixierung auf das Charisma künstlerischer Persönlichkeiten ist nicht verwunderlich angesichts der obersten politischen Persönlichkeit im Lande, Adolf Hitler, dessen Ausstrahlung seit jeher als das Exempel für Webers Theorie diskutiert wird. Die charismatischen Führungspersönlichkeiten an den führenden Bühnen des Landes dienten als Verstärker: Sie sollten die gleiche rücksichtslose Willensstärke demonstrieren wie der Führer selbst.

Wie aber kann unter diesen Bedingungen die Nachfolge gelingen? Charismatische Herrschaft, so Weber, definiert sich durch institutionelle Instabilität, weil sie so eng mit dem biologischen Körper eines Individuums verbunden ist. Weber stellt dem Konzept des Charismas jenes der Bürokratie gegenüber. Da Charisma die Qualität einer Persönlichkeit mit spezifisch außeralltäglichen Kräften voraussetzt, erkannte Weber, dass Außergewöhnlichkeit einerseits und bürokratische Veralltäglichung andererseits in einem potenziellen Konflikt stehen.

Die dringende Frage an die Theater lautet nun, wie diese den Übergang von einem Übermenschen zum anderen gestalten. Und was passiert, wenn dieser Prozess, wie jetzt in Berlin, infrage gestellt wird? Diskussionen über die Nachfolge von einem Übermenschen zum anderen sind nicht unüblich. Dafür gibt es sogar einen Begriff, den des Intendantenkarussells, der andeutet, dass ein fast unveränderlicher Satz an Personen die gleichen Stellen immer wieder unter sich aufteilt. Wie aber wird die Amtsübertragung genau geregelt? Und ist sie transparent?

Bei Stadttheatern mit hohem Bekanntheitsgrad und bei allen Staatstheatern regiert absolute Verschwiegenheit; die Beratungen lassen das Konklave des Vatikans wie eine Facebook-Seite aussehen. Als könne die Übertragung des Amts nur außerhalb der Öffentlichkeit stattfinden, um die Wahrung des Charismas zu sichern. Es ist eine Rückkehr zum Regieren durch Geheimhaltung, einem Grundzug feudal-absolutistischer Herrschaft und damit die Antithese zu modernen transparenten Regierungsformen.

Die Berliner Debatte vermittelte den Eindruck, als stünde das ganze System auf dem Spiel

Mit der Nachfolge-Krise an der Berliner Volksbühne kommen nun alle Elemente des alten Systems zusammen. Ein charismatischer Regie führender Intendant in der Person Castorfs, der seine Ablösung gar nicht einsieht. Castorf ist seit 1992 im Amt. Die übliche Laufzeit beträgt 10 Jahre. Ohne seine historischen Verdienste zu schmälern, ist man sich innerhalb der Kritikergemeinde einig, dass seine kreativen Kräfte schwinden und ein Nachfolger gefunden werden musste.

Christopher Balme, 2016

Christopher Balme ist Direktor des Instituts für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

(Foto: Catherina Hess)

Beratungen über seine Nachfolge geschahen auf der Hinterbühne. Noch vor einer offiziellen Mitteilung meldete sich ein anderer charismatischer Regie führender Intendant mit einem offenen Brief zu Wort: Claus Peymann vom Berliner Ensemble, dessen Amtszeit ebenfalls überschritten ist. Künstlerisch sind Peymann und Castorf Antithesen. Einigkeit herrscht zwischen den beiden allenfalls über ihre jeweilige Außergewöhnlichkeit. Zwei Gegenpole im Schulterschluss: Danach war klar, dass sich hier etwas Ernstes anbahnte.

Peymanns Brief malte die Zukunft des gesamten deutschen Theatersystems schwarz. Der Belgier Chris Dercon, gegenwärtig noch Direktor der Tate Modern, sei kein Mann des Theaters. Bei Peymann klang es, als würde Dercon - statt ein Ensemble mit Repertoire zu leiten - das Theater als einen Ort für Gastspiele und Produktionen nutzen. Einige prominente Intendanten unterstützten Peymann und Castorf. Dercon versuchte, in einer Pressekonferenz zu beruhigen, doch die Debatte dauert an und vermittelt den Eindruck, als stünde ein gesamtes System der Theaterproduktion infrage. Inzwischen hat sich sogar theaterintern Widerstand gebildet. Der Konflikt schwelt weiter.

München hat auch eine Nachfolge, aber eine gelöste. Der neue Intendant der Münchner Kammerspiele, Matthias Lilienthal, ist seit 2015 im Amt; die Nachfolgeregelung nach Johan Simons verlief mehr oder weniger ohne größere Anfechtung, obwohl sein Verständnis von dem, was ein Stadttheater ist, vielleicht sogar noch radikaler ist als das Chris Dercons.

Lilienthal hat sehr erfolgreich den aus drei Spielstätten bestehenden Veranstaltungsort Hebbel am Ufer in Berlin betrieben. Mit wenig Geld sowie ohne Ensemble kuratierte er zahlreiche Events und schuf ein Forum für Berlins dynamische, im Vergleich zu München und trotz Dauerverschuldung der Stadt Berlin sehr gut finanzierte freie Theaterszene. Er wurde auch als Nachfolger Castorfs gehandelt, wo er Dramaturg war. Seine Ernennung hätte womöglich sogar Peymanns Beifall gefunden; denn auch, wenn er kein Regie führender Intendant ist, so hat er doch "Castorf-Kontaktcharisma".

Abgesehen von den lokalen, gar provinziellen Bedingungen der beiden Fälle: Was lässt sich aus diesen Fällen für die Nachfolgefrage schließen? Entscheidend ist der Konflikt zwischen der tendenziell irrationalen Herrschaft künstlerischer Autonomie einerseits und den rationellen Erfordernissen einer bürokratischen Theaterleitung andererseits.

Große Theater beschäftigen bis zu tausend Menschen - so viele wie eine mittelständische Firma

Deutsche Theaterinstitutionen haben eine Tradition institutioneller Herrschaft entwickelt, bei der kreative Künstler mit hoch komplexen Managementaufgaben betraut werden. Große Staats- und Stadttheater können bis zu tausend Menschen beschäftigen, was der Größenordnung eines mittelständischen Unternehmens entspricht. Irrationales Charisma trifft koordinierte Bürokratie.

In seinen Ausführungen zur charismatischen Herrschaft bezieht sich Max Weber wiederholt auf die wilden Anfälle eines Berserkers als Beispiel für eine charismatische Persönlichkeit. Gibt man bei Google das Wort "Regie-Berserker" ein, so erscheint an erster Stelle Frank Castorf, dicht gefolgt von dem ebenfalls an der Volksbühne tätigen Choreografen Johann Kresnik. Die Trennlinien zwischen genialem Künstler, Regie-Berserker und Diktator sind oft schwer zu ziehen.

Die Krise der Nachfolge wirft die Frage auf, warum in Deutschland so lange an der Herrschaftsform des Regie führenden Intendanten festgehalten wurde. An der Bayerischen Staatsoper beispielsweise hat man sich bereits Anfang der Neunzigerjahre mit der Berufung von Peter Jonas davon verabschiedet.

In der Figur des Regie führenden Intendanten hat sich ein besonderes und wohl anachronistisches Verhältnis zwischen Ästhetik und Institution herausgebildet. Die Machtfülle des Amtes hat wohl in der NS-Zeit ungeahnte Ausmaße erreicht, endete aber nicht mit der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Die Berufung von Dercon und Lilienthal könnte darauf hindeuten, dass dieses Modell ausstirbt. Theater ist Krise, sagte Heiner Müller. Wo keine Krise, da keine Veränderung.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: