Beseitigung von Kampfmitteln:Die stille Explosion im Meer

Deutscher Minenleger in der Ostsee, 1943

Deutscher Minenleger 1943 in der Ostsee - Rückstände aus den Weltkriegen belasten die Meere bis heute.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Ein riesiger Meeresroboter soll Munition aus den Weltkriegen unschädlich machen, die in Nord- und Ostsee vor sich hin rostet. Das Problem ist gewaltig.

Von Thomas Hahn, Hamburg

In seinem Büro bei der Firma Heinrich Hirdes EOD Services in Hamburg-Harburg hat der technische Direktor Jan Kölbel auch ein volles Bücherregal. Allerdings ist es etwas einseitig bestückt und man darf annehmen, dass es nicht wirklich Kölbels Literaturgeschmack spiegelt: Ein kleines Archiv zur Geschichte der Marine hat er da zusammengestellt, lauter Bücher zum Thema Militär auf dem Meer, zum Beispiel die 68 Bände des Kriegstagebuchs der deutschen Seekriegsleitung von 1939 bis 1945 oder die gesammelten Aufzeichnungen der britischen Kriegsmarine aus jenen düsteren Zeiten.

Kein romantischer Stoff, aber Kölbel und seine Kollegen brauchen die Dokumente, um einen Beitrag zu einem Jahrhundert-Unternehmen leisten zu können: nämlich sämtliche Munition zu entschärfen, die auf dem Grund von Nord- und Ostsee still vor sich hin rostet.

Die Kampfmittelräumung im Meer ist eine junge Disziplin für Sprengmeister und Ingenieure. Jahrzehntelang haben Politik und Wissenschaft es wie ein unabänderliches Schicksal hingenommen, dass von den Kampfhandlungen mit der industriellen Vernichtungsmaschinerie des Ersten und Zweiten Weltkrieges riesige Mengen an hochexplosivem Schrott auf dem Meeresboden zurückgeblieben sind. Erstens wegen der Kosten.

Zweitens weil der Stand der Technik lange keine Lösung verhieß. Und - drittens - wohl auch, weil viele gar nicht so genau wissen wollten, wie sehr die alte Munition das Meer wirklich belastet. Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck von den Grünen sagt: "Das Problem wurde mit spitzen Fingern oder gar nicht angefasst, weil es so groß ist."

Aber jetzt ist die Zeit der Energiewende. Offshore-Windparks entstehen vor der deutschen Küste, und die Fundamente der Windkraftanlagen mit den dazugehörigen Kabeltrassen kann man wegen der alten Munition nicht einfach auf Verdacht in die See setzen. Viele Millionen Euro kostet es die Windpark-Investoren, die Baugebiete auf Minen absuchen und diese dann zerstören zu lassen. Die Firma Hirdes ist spezialisiert auf Kampfmittelbeseitigung.

Für sie ist die neue Entwicklung ein gutes Geschäft. Aber die Kundschaft wünscht sich eine billigere Methode, um den Meeresgrund munitionsfrei zu bekommen. Und weil mittlerweile auch die Politik Interesse hat, namentlich der Minister Habeck das Thema anpackte, arbeiten Hirdes-Ingenieure jetzt an einem Forschungsprojekt namens RoBeMM, das der Bund mit 3,5 Millionen Euro fördert. Am Ende soll die saubere Kampfmittelräumung mittels Roboter gelingen. "Das Ziel ist, voll automatisiert aus sicherer Entfernung von einem Piloten gesteuert die Munition detonationsfrei an Ort und Stelle zu vernichten", sagt Kölbel.

Derzeit werden Schleier aus Luftblasen gelegt, um den Lärm wenigstens etwas zu dämpfen

Dieser Anspruch klingt wie eine Aufforderung zur Zauberei, wenn man bedenkt, wie die Fachleute derzeit noch Kampfmittel im Meer unschädlich machen. Durch Sprengen nämlich. Kölbel gibt ein Beispiel: "Ich habe eine Grundmine mit 700 Kilo hochexplosivem Sprengstoff entdeckt. Dann packe ich noch ein paar Kilo Sprengstoff drauf und puste das in die Luft." Munition gegen Munition - umweltfreundlich ist das nicht. Zusätzliche Schadstoffe geraten ins Meer.

Durch die Detonation entsteht eine Druckwelle, die alles tötet, was im Umkreis herumschwimmt. Außerdem macht sie einen infernalischen Lärm, der die Meeresfauna empfindlich belastet.

Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie schreibt in Deutschland teure Schutzmaßnahmen vor. Elektronisch erzeugte Geräusche und kleine Sprengungen sollen Meeressäuger vergrämen, bevor es richtig kracht. Die Sprengmeister legen Luftblasenschleier rund um die Detonationsstelle, um den Knall zu dämpfen. Aber befriedigend ist das alles nicht. Jan Kölbel findet: "Im 21. Jahrhundert muss es Möglichkeiten geben, das anders zu machen."

Seit sechs Jahren ist Hirdes mit der Bergung von Meeresmunition befasst. Die Firma forscht intensiv zu dem Thema. Deshalb ist auch die Kriegsliteratur so wichtig, die Kölbel im Büro hat. Sie ist nur ein Ausschnitt von dem Archiv, welches das Unternehmen angelegt hat. 900 000 Seiten Material haben Mitarbeiter aus Archiven in den USA, Großbritannien, Australien und Deutschland gesammelt. Sie haben aus den Dokumenten ableiten können, welche Munition wo ins Meer gekommen ist - allerdings nicht die ganze Wahrheit, denn der Eintrag aus Kriegshandlungen ist ja nur ein Teil des Problems.

Nach den Weltkriegen wurde überschüssige Munition in die See gekippt - und zwar nicht nur in den dafür geplanten Versenkungsgebieten, sondern auch undokumentiert auf der Fahrt dorthin. Die Schleppnetzfischerei hat Bomben am Meeresgrund versetzt. Und sogenannte Munitionsfischer warfen altes Kriegsgerät einfach so über Bord, nachdem sie es erst geborgen und Wertstoffe wie Aluminiumzünder oder Kupferführungsringe davon abgeschlagen hatten.

1,6 Millionen Tonnen Munition sollen am Grund von Nord- und Ostsee liegen

Es liegt deshalb viel mehr Munition viel verstreuter im Meer als anfangs gedacht. Seit ein paar Jahren kursiert dazu eine Zahl: 1,6 Millionen Tonnen sollen allein auf dem Grund von Nord- und Ostsee schlummern.

Jan Kölbel findet andere Angaben belastbarer. "Die britische Royal Navy hat vor der deutschen Küste 65 000 Grundminen platziert", sagt er, "und Sie können davon ausgehen, dass davon die wenigsten detoniert sind, weil die Zünder eine begrenzte Batteriekapazität hatten."

Außerdem wurden im Krieg mehrere hunderttausend Ankertauminen verlegt, welche später nicht vollständig unschädlich gemacht wurden. Laut einer australischen Studie sind nur zehn von 100 Ankertauminen während der Beseitigung detoniert.

Ein Erfolg mit RoBeMM könnte sich also lohnen. Schon jetzt sind Roboter ein Standard bei der Kampfmittelbeseitigung. Die Arbeit an den Bomben ist gefährlich und menschliche Taucher würden sich schwer tun, sie in den dunklen Tiefen zu ertasten. Sogenannte Remotely Operated Vehicles (ROV), ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge, befreien Kriegsschrott aus dem Meeresgrund und transportieren ihn ab.

Sie tragen diverse Sensoren, Kameras, Sonarsysteme, eine Baggerpumpe, zwei Manipulatoren. Sie können damit Kriegsgerät mit einer Trockenmasse von 350 Kilo bearbeiten. Und zwar auch noch in 3000 Metern Tiefe, 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.

Aber der neue Roboter soll noch schlauer werden. Kölbel will vorerst keine Details verraten, das Projekt zum Bau eines Demonstrations-Geräts steckt bis September in der Studienphase. Nur so viel: Der Roboter wird größer als ein Lastwagen, fünf mal vier mal acht Meter.

Er soll selbst schwer verrostete Bomben bergen können. Ihnen den Sprengstoff entziehen und diesen dann in einer mitgeführten Verbrennungsanlage noch an Ort und Stelle "thermisch vernichten", wie Kölbel es ausdrückt. "Alles was übrig bleibt, ist dann harmloser Schrott, beziehungsweise gefilterte warme Luft, die aus der Verbrennungsanlage rauskommt."

Die Forschung pirscht sich von mehreren Seiten an das Thema Kriegsmittelbeseitigung im Meer heran. Die Firma Hirdes arbeitet auch gerade daran, ein Verfahren aus Amerika für ihre Zwecke passend zu machen. Es geht darum, harmlosen Schrott von Kriegsschrott unterscheiden zu können, was mit herkömmlichen Magnetometern nicht möglich ist. "Wir sehen das als Entwicklungskreis", sagt Jan Kölbel.

Der Roboter, der Bomben auf dem Meeresboden kaltmacht, ist nur ein Aspekt einer umfassenden Aufräummaschinerie, die eines Tages die Meere der Welt von den Rückständen des Krieges befreien soll.

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