Inklusion:Studieren mit Lernschwäche - ein Triumph über das deutsche Schulsystem

Amili Targownik

An einer Highschool in New York bekommt Amili Targownik aus München ihr Zeugnis überreicht.

(Foto: Daniel Targownik; Privat)

Ihre Lehrer trauten Amili Targownik in der Schule kaum etwas zu. Nun wird sie trotzdem studieren.

Von Kim Björn Becker

Die Abfahrt in München verzögert sich um sechs Minuten, technische Störung am Zug. Vor Amili Targownik und ihren Eltern liegen etwa fünfeinhalb Stunden Fahrt, so lange braucht man von der bayerischen Landeshauptstadt bis nach Bremen. Es ist Frühjahr 2015, und im Norden der Republik wird die 19-Jährige bald zum ersten Mal erfahren, wie es ist, Studentin zu sein. Für Tausende andere Menschen in ihrem Alter ist das ein vergleichsweise normaler Schritt, schließlich haben noch nie so viele Absolventen eines Jahrgangs studiert wie heute. Für Amili Targownik und ihre Familie jedoch war es ein weiter Weg bis hierher.

Im Oktober 1996 kam sie mit einer Hirnschädigung auf die Welt, die Ärzte sprechen von einer sogenannten Zerebralparese. Statistisch kommt etwa eines von 500 Kindern mit dieser Schädigung auf die Welt, eine Heilung ist unmöglich. Betroffene haben sehr oft körperliche Einschränkungen und vielfach auch geistige. Amili Targownik sitzt seit ihrer Kindheit im Rollstuhl und kann ihre Arme und Hände schwer bewegen. Im Kopf aber ist sie hellwach, sie spricht vier Sprachen - nur fällt ihr das Schreiben schwer und fürs Lernen braucht sie etwas länger.

Der Zug nach Bremen hat gerade den Bahnhof von Würzburg verlassen, da kommt das Gespräch auf die bevorstehende Zeit in Bremen. Targownik hat sich dafür entschieden, erst einmal ein Orientierungsjahr an der privaten Jacobs-Universität zu belegen, um den Uni-Betrieb und verschiedene Fächer kennenzulernen. Natürlich freue sie sich auf die Herausforderung des Studiums, sagt sie. "Aber ich hoffe auch, dass ich schon so weit bin."

Etwa sieben Prozent aller Studenten, die im Sommersemester 2012 an einer deutschen Hochschule eingeschrieben waren, hatten eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die ihnen das Studium erschwert. Das geht aus der jüngsten Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks hervor. Innerhalb dieser Gruppe wiesen allerdings die meisten Betroffenen psychische Beeinträchtigungen oder chronische Krankheiten auf. Einschränkungen des Nervensystems, wie sie bei Behinderten vielfach auftreten, werden in der Studie nicht gesondert ausgewiesen - die Zahl der Betroffenen, die es bis an eine Universität schaffen, ist also vermutlich sehr gering. Vor vier Jahren hat der Verband Sonderpädagogik ein Positionspapier zur beruflichen Integration vorgelegt - der Bildungsweg über eine Hochschule wird darin gar nicht erst angesprochen.

Es ist schwierig, das behütete System wieder zu verlassen

Dass es Jugendliche mit Lernschwäche offenbar schwer haben, sich an einer Hochschule zu beweisen, liegt nach Ansicht von Amilis Eltern am deutschen Schul- und Förderschulsystem. Zwar würden Kinder mit Behinderungen meist rasch und auch gut in eine Förderschule aufgenommen, sagt Vater Daniel Targownik. Doch wenn es darum gehe, dass begabte Kinder das behütete System wieder verlassen wollten, werde es schwierig. In München schickten die Targowniks ihre Tochter erst auf eine private Förderschule für Behinderte, nach anderthalb Jahren wechselte sie auf eine staatliche Grundschule.

Nach der vierten Klasse erhielt Amili die Empfehlung, erneut die Förderklasse einer Hauptschule zu besuchen - die Lehrer, so schildern es die Eltern, äußerten die Sorge, dass das Mädchen dem Druck einer Regelschule nicht gewachsen sei. Nach einigen Diskussionen konnte sie eine private Förderschule besuchen, die als staatlich anerkannte Realschule firmiert. "Seit ich in die Grundschule kam, sagten mir meine Lehrer immer wieder, dass ich nicht gut genug für die Schule wäre", sagt Amili Targownik. "Auch in der neunten Klasse hatte ich dann wieder eine Lehrerin, die mir mein Scheitern voraussagte."

"Ich bin froh, dass ich es gemacht habe"

Also machte sie einen neuen Plan und ging in der zehnten Klasse in die USA, an eine private Highschool im Bundesstaat New York. "Die Zeit war enorm aufwendig", erinnert sich Targownik. Nicht nur, dass die Schule teuer war und die ganze Familie mitgeholfen hat, um die Gebühren sowie die nötigen Reisen zwischen Deutschland und der US-Ostküste zu bezahlen. Aufgrund ihrer Behinderung braucht Amili ein barrierefreies Umfeld und rund um die Uhr Hilfe - das ist nirgends leicht zu organisieren. Im Unterricht läuft es dann aber gut, wie sie sagt: "Ich hatte das Gefühl, dass mir die Lehrer dort viel mehr zutrauen als in Deutschland."

Ihr größtes Projekt an der amerikanischen Ross School ist ein eigenes Buch, in dem sie ihre Erfahrungen schildert. Parallel notiert sie in einem Blog, wie es mit dem Schreiben läuft. Nach drei Jahren ist das Buch fertig, Titel: "Nothing is impossible", nichts ist unmöglich. Zu dieser Zeit hat Targownik alle Kurse bestanden. Zwar brauchte sie, wie erwartet, deutlich länger als ihre Mitschüler, um den Stoff zu beherrschen. Doch am Ende hatte sie alle erforderlichen Noten beisammen. Das Foto von ihrer Abschlussfeier zeigt sie im Talar und mit dem Zeugnis in der Hand. Der Abschluss ist auch so etwas wie ein Triumph für sie, ein später Sieg über das - aus ihrer Sicht - oft hinderliche deutsche Förderschulsystem.

Im Frühsommer 2016 sitzt Amili Targownik am Esstisch im Wohnzimmer ihres Elternhauses unweit von München. Das Orientierungsjahr an der Bremer Universität ist vorüber, auch dort seien die Noten gut gewesen. "Ich bin froh, dass ich es gemacht habe", sagt Targownik über die zurückliegenden Monate. "Das Programm hat mir geholfen herauszufinden, was ich kann." Die Kurse in Psychologie fand sie besonders interessant, auch Sozialwissenschaften haben sie interessiert - nur Mathematik ging gar nicht.

Über ihre Berufswünsche ist sie sich inzwischen auch schon etwas klarer: Sie will anderen Behinderten in Deutschland helfen und sie beraten, damit sie es einmal leichter haben mit Schule und Ausbildung. "Ich sehe mich da schon ein wenig als politische Aktivistin", sagt Targownik. Ihre persönliche Erfahrung ist dabei sicher wichtig, doch ein Studienabschluss, sagt sie, wäre schon sehr hilfreich, um einmal einen Job zu bekommen und ernst genommen zu werden.

Auf dem Tisch vor Amili liegt ein Brief vom Studiendekan an der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv. Es ist die zweitgrößte Universität des Landes mit derzeit fast 25 000 Studenten. Er freue sich, so schreibt er, ihr mitteilen zu können, dass sie für den Bachelor-Studiengang in Sozialwissenschaften angenommen worden sei. Von November an studiert Targownik Soziologie, Psychologie und Kriminologie. Die Regelstudienzeit beträgt drei Jahre, sie wird wohl etwas länger brauchen. "Aber ich will es auf jeden Fall schaffen."

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