Bewerbung als Kulturhauptstadt:Hauptstadt der Bescheidenheit

Lesezeit: 4 min

Nürnberg überlegt, sich als Kulturhauptstadt Europas zu bewerben. Klingt kompliziert? Ist es auch, denn wieder einmal plagen die Stadtoberen Selbstzweifel - zu Unrecht.

Von Olaf Przybilla

Die Stadt Nürnberg will Europäische Kulturhauptstadt 2025 werden. Was aber andere Städte in Euphorie versetzen würde, führt in Nürnberg wie so oft zu Selbstzweifeln: Nürnberg? Ist die Stadt auch wirklich würdig?

Eine rasche Antwort vorab: Nürnberg dürfte sich tatsächlich wie nur wenige deutsche Städte dafür eignen, sich mit dem Etikett "Kulturhauptstadt" zu schmücken. Der Grund dafür ist ziemlich banal: Nürnberg blickt auf eine Stadtgeschichte zurück, wie man sie in Deutschland so nur an sehr wenigen Orten erleben kann. In dieser Dichte unterschiedlicher und bis heute erlebbarer Epochen dürfte das sogar kaum irgendwo anders in der Bundesrepublik auf diese Weise möglich sein. Im Ernst?

Absolut. Vielleicht versetzt man sich kurz in einen gymnasialen Geschichtslehrer, der nur wenige Tage Zeit hat für eine Exkursion, in der er seiner zwölften Klasse deutsche Geschichte anhand exemplarischer Epochen vor Augen führen will. Würde dieser Lehrer seine Schüler die Stadt Nürnberg erkunden lassen, könnte er ihnen an vier Tagen vier der prägendsten Zeitalter deutscher Historie vorführen.

Erster Tag: Das Mittelalter. Nürnberg war eine der Metropolen des Mittelalters, auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands konnte da größenmäßig allein die Stadt Köln mithalten. So war es natürlich kein Zufall, dass das erste Reichsgrundgesetz, die "Goldene Bulle", in Nürnberg ausgearbeitet und kaiserlich in Kraft gesetzt wurde. War Nürnberg also eine Art Reichshauptstadt? Das nicht, denn die Wanderkönige des Mittelalters brauchten keine festen Dienstsitze zur Herrschaftsausübung, man war unterwegs, um die Macht zu sichern. Im Reichsgrundgesetz aber wurden nur drei deutsche Städte erwähnt und mit Funktionen der Königswahl ausgestattet: Frankfurt, Aachen und eben Nürnberg.

Zweiter Tag: Die Renaissance. Zur Zeit Dürers galt Nürnberg als eines der geistigen und künstlerischen Zentren Europas - manche Zeitgenossen sagten gar: das Zentrum schlechthin. Albrecht Dürer, der Meister vom Nürnberger Burgberg, wäre ohne die Geistesgrößen aus seiner Nachbarschaft, den Kreis etwa um den Humanisten und Ratsherren Willibald Pirckheimer, kaum zu dem geworden, der er war: einer der ersten Stars und Selbstmarketingprofis der Kunstgeschichte. Und dass aus dem Schuhmacher Hans Sachs nicht nur einer der maßgeblichen Knittelvers-Dichter der deutschen Literaturgeschichte wurde, sondern auch der Meistersinger von Nürnberg, als der er von Richard Wagner verewigt worden ist, dürfte auch am Geist der Stadt zu dieser Zeit gelegen haben. Einer Stadt der Intellektuellen-Zirkel.

Kaiserstallung, yeah! Eine der hippsten Jugendherbergen Deutschlands ist in der Nürnberger Burg untergebracht. (Foto: DJH-Bayern/Peter)

Dritter Tag: Die Epoche der Industrialisierung. Die Fahrt der ersten deutschen Eisenbahn ist eines der prägenden Daten auf dem Weg Deutschlands zur Industrienation. Diese erste Bahn fuhr zwischen Nürnberg und Fürth, und natürlich war auch das alles andere als Zufall: Der Weg führte entlang der Chaussee zwischen den schon früh industrialisierten Handelsstädten Nürnberg und Fürth, der am häufigsten frequentierten Straßenverbindung im Königreich Bayern. Dort wurde 1835 die erste für den Personenverkehr konzipierte Bahn in Deutschland auf die Gleise gesetzt, die regelmäßig eine Dampflokomotive einsetzte. Eine Revolution, keine Frage.

Entlang der Fürther Straße in Nürnberg kann man deutsche Industriegeschichte aber auch aus einer anderen, nicht nur erfreulichen Perspektive erleben. Nacheinander reihen sich dort ehemalige Industrie- und Handelsriesen wie an einer Perlenschnur, auch das auf so engem Raum wohl ohne Vergleich. Hier produzierte Triumph Adler seine Fahrräder, einen Block weiter ging bei AEG die weiße Ware vom Band, schräg gegenüber steht der ebenso denkmalgeschützte wie über weite Strecken verwaiste Koloss von Quelle. Und nach der Stadtgrenze zu Fürth kann man beobachten, wie Strukturwandel aus verflossenen Erfolgsgeschichten neue machen kann: Auf dem ehemaligen Grundig-Areal arbeiten längst Forscher der Universität.

Vierter Tag: Nationalsozialismus und Nachkriegszeit. Nürnberg war nicht nur der Ort, an dem die Nazis mit den "Nürnberger Rassengesetzen" ihre antisemitische Ideologie auf eine perfide Grundlage stellten. Es war auch der Ort des NS-Massentaumels auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Und es war der Ort, an dem sich das Regime vor den Augen der Welt zu verantworten hatte. Übrigens ebenfalls an der Fürther Straße, im Justizpalast, wo nach 1945 Weltgeschichte geschrieben wurde: Die Nürnberger Prozesse gelten als Geburtsstunde des Völkerrechts.

Allein: Der Titel, um den sich Nürnberg für das Jahr 2025 bewerben will, heißt natürlich nicht "exemplarischer Ort deutscher Geschichte" - sondern "Kulturhauptstadt". Aber auch da kann die Stadt auf einer Infrastruktur aufbauen, wie das wohl wenige Städte dieser Größe von sich sagen dürfen. Wer etwa das Mittelalter nicht nur in den Gassen der Stadt erleben will, der besucht die Dauerausstellung auf der Kaiserburg. Und danach das Stadtmuseum, wo Kopien der Reichskleinodien, Insignien der kaiserlichen Macht, ausgestellt sind. Am beliebtesten natürlich: die Kaiserkrone. Der Besuch im Staatsarchiv gleich hinter der Burg dürfte eher für Kenner sein, die wiederum drohen dort ehrfürchtig zu werden. Das Archiv bewahrt eine der Ausfertigungen der "Goldenen Bulle" auf, das wichtigste Grundgesetz des Reiches, das 2013 zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde.

Auf dem Rückweg zur Stadt empfiehlt sich dann ein Besuch der, jawohl, Jugendherberge. Sie ist untergebracht in der früheren Kaiserstallung auf der Burg, einem ebenso imposanten wie neu eingerichteten Steinbau mit fünf übereinander liegenden Dachböden. Ein Blick über eine Halbmillionenstadt mit Industriegeschichte und mittelalterlichem Kern? Vom Dach der Jugendherberge ist das hervorragend möglich.

Natürlich muss man auch das Dürer-Haus besuchen, um die Kulturgeschichte dieser Stadt zu verstehen, gerade die Zeit der Renaissance. Und man muss realisieren, was es mit dem Titel "Germanisches Nationalmuseum" auf sich hat. Den hat sich das Haus in früheren Zeiten selbst verpasst, was immer wieder dazu führt, dass Besucher das Museum mit frühzeitlicher Kunst assoziieren, "irgendwas mit Germanentum". Tatsächlich ist der zweite Teil des Hausnamens der deutlich wichtigere. Und er führt weniger in die Irre: Beim Nationalmuseum handelt es sich schlicht um das größte kunst- und kulturgeschichtliche Museum im deutschsprachigen Raum. Tatsächlich eben: ein Nationalmuseum.

Die Geschichte der Industrialisierung? Jenseits der Fürther Straße schaut man sich diese im DB-Museum am Nürnberger Hauptbahnhof an, die Rolle eines weltbewegenden Verkehrsmittels vom Adler bis zur Wiedervereinigung. Oder man geht ins "Museum Industriekultur", das Technik-, Kultur- und Sozialgeschichte der Republik miteinander verbindet, dargestellt am Beispiel der alten Arbeiterstadt Nürnberg.

Die Geschichte der NS-Parteitage ist dokumentiert im Süden der Stadt, aufs Areal am Doku-Zentrum strömen 200 000 Besucher pro Jahr, gerechnet hatte die Stadt mit einem Bruchteil davon. Und nicht weit davon entfernt kann man im Memorium Nürnberger Prozesse verfolgen, wohin die Geschichte vom NS-Gelände führte - und wie dem Regime der Prozess gemacht wurde. Momentan finden im Saal 600 noch Verhandlungen statt. Demnächst soll er ausschließlich als Museum genutzt werden. Es ist nicht das einzige kulturelle Großprojekt, das der Stadt bevorsteht: Geplant ist ein neuer Konzertsaal, er wird neben der Meistersingerhalle entstehen und dürfte wohl rascher fertig sein als jener in München. Und mitten im Stadtzentrum soll in absehbarer Zeit eine Dependance des Deutschen Museums entstehen, auch diese Pläne sind bereits sehr konkret. Aber, sagt Kulturreferentin Julia Lehner, das alles sei sozusagen nur der kulturelle Bestand der Stadt. Für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt wolle sich Nürnberg auch viel Neues einfallen lassen, "ein gemeinsames Projekt der gesamten Stadtgesellschaft soll das werden", erklärt sie. Das Fundament dafür wirkt schon mal nicht schlecht.

© SZ vom 19.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: