Historische Reisen:Wie ein Franke die große Bering-Expedition rettete

Seekuh

Georg Wilhelm Steller schrieb seine Forschungsergebnisse über die Einwohner und auch die Seekuh auf. Die Abbildungen stammen aus seinem Werk: "Von Sibirien nach Amerika, Die Entdeckung Alaskas mit Kapitän Bering 1741-1742".

(Foto: K. Thienemanns Verlag)

Georg Wilhelm Steller begleitete die "Große Nordische Expedition" eigentlich nur als Arzt und Naturforscher - doch ohne ihn wäre sein viel bekannterer Kapitän Vitus Bering nicht zum Entdecker geworden.

Von Ingrid Brunner

Es ist ein Stoff wie gemacht für einen Hollywoodfilm: Am 7. November 1741 erlitt das Paketboot St. Peter unter dem Kommando des dänischen Kapitäns Vitus Bering Schiffbruch, auf einer lebensfeindlichen Insel im Nordpazifik, irgendwo zwischen Alaska und Kamtschatka. Noch hofften die Gestrandeten, an der Küste von Kamtschatka gelandet zu sein. In Wahrheit befanden sie sich etwa 200 Kilometer vor der Ostküste Kamtschatkas auf einem öden Eiland, das später Beringinsel heißen sollte.

Es folgte ein neunmonatiger Überlebenskampf, dessen glücklichen Ausgang die 46 der anfangs 77 Mann starken Besatzung nicht zuletzt einem zu verdanken hatten: dem Arzt und Naturforscher Georg Wilhelm Steller, geboren 1709 in der Freien Reichsstadt Windsheim. Stellers Tagebuchaufzeichnungen schildern eindringlich die Not der von Hunger, Auszehrung und Skorbut geschwächten Männer. Steller war ein bedeutender Chronist dieser letzten Etappe der "Großen Nordischen Expedition", deren Auftrag es war, das amerikanische Festland zu finden.

Wie aber hatte es die St. Peter, wie hatte es den Franken Steller dorthin verschlagen? Es ist die Geschichte zweier Männer - Vitus Berings und Georg Stellers -, deren Leben schicksalhaft an einem Punkt zusammenliefen und von da an miteinander verbunden waren: in Kamtschatka.

Im Jahr 1740 kam Steller an der Ostküste Russlands in der Stadt Ochotsk an; nach einer zweieinhalb Jahre währenden Forschungsreise von St. Petersburg über Nishni Nowgorod, Kasan, Tobolsk, Tomsk und Jenisseisk. Steller war Mitglied der insgesamt 500 Mann zählenden "Großen Nordischen Expedition" (1733 bis 1743).

Zur gleichen Zeit befand sich Bering auf der Halbinsel Kamtschatka, die sich mit ihrer Landmasse zwischen dem Ochotskischen Meer und dem nördlichen Pazifik erstreckt. In Peter-und-Pauls-Hafen, dem heutigen Petropawlowsk, ließ Bering zwei Schiffe bauen, die St. Peter und die St. Paul. Mit ihnen wollte man den Seeweg nach Alaska finden sowie die dort vermuteten sagenhaften Länder "Gamaland" und "Kompagnieland", geografische Irrtümer, die noch auf den spekulativen Landkarten der damaligen Zeit eingezeichnet waren.

Ein Zufall wollte es, dass Steller in letzter Minute als Schiffsarzt mitfuhr. Die Instruktionen verlangten, dass sowohl ein Arzt als auch ein Wissenschaftler auf der Expedition nach Amerika dabei sein sollte. Doch der eigentlich vorgesehene Arzt fiel wegen Krankheit aus. Mit Steller konnte Kapitän Bering zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Daher beschwor Bering Steller, von Ochotsk nach Peter-und-Pauls-Hafen zu reisen und die Aufgabe zu übernehmen.

Am 4. Juni 1741 legten die beiden Schiffe mit jeweils 77 Mann ab. Der Sichtkontakt zur St. Paul ging schon wenig später im Nebel verloren. Sieben Wochen später, am 15. August, sichtete man an Bord der St. Peter nach langer Irrfahrt endlich Land. "... von allen Seiten wurde dem Herrn Kapitän-Kommandeur, dem der Ruhm am meisten zukam, Glück gewünscht", vertraute Steller seinem Tagebuch an.

Zehn Jahre Vorbereitung - für zehn Stunden auf Land

Bei aller Bescheidenheit: Die Ehre, als erster Land erblickt zu haben, gebührt dem erst 32 Jahre alten Steller. Doch der wurde, da er lediglich Wissenschaftler und kein Seemann war, gering geschätzt an Bord.

Steller drang darauf, nun doch auch an Land zu gehen. Doch Bering, von Skorbut und Erschöpfung geschwächt, zögerte. Er verließ kaum noch seine Kabine. Das Kommando hatte weitgehend der schwedische Leutnant Sven Waxell übernommen. Erst als Steller drohte, sich nach der Rückkehr an höherer Stelle zu beschweren, "da doch dies mein Hauptwerk, mein Beruf und meine Schuldigkeit gegenüber der Krone sei", ließ man ihn am 20. August in Begleitung von Schiffsmeister Safron Kitrow an Land gehen - für zehn Stunden.

Zeit genug für Steller, 160 Pflanzen zu identifizieren, Tiere zu beobachten, Alltagsgegenstände der Aleuten-Eskimos und "antiskorbutische" Kräuter und Beeren zu sammeln.

Als Arzt hat er bereits den Zusammenhang zwischen dem Skorbut und dem Fehlen an frischen Speisen an Bord erkannt. Von der Mannschaft wurde er dafür verlacht. Seine Bitte, an Land gehen zu dürfen, um Beeren und Kräuter zu sammeln, wurde ein ums andere Mal abgelehnt. Ein Fehler, den man später bitter bereuen sollte, "als wir kaum mehr vier gesunde Menschen an Bord hatten". Steller hat somit vor 275 Jahren als erster Europäer Alaska betreten - beziehungsweise die vorgelagerte Insel Kayak. Wieder an Bord vermerkte er bitter: "Zehn Jahre währte die Vorbereitung, und zehn Stunden wurden der Sache selbst gewidmet."

Abenteuer

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Nun aber wurden eilig die Anker gelichtet. Obwohl noch nicht alle Fässer mit Frischwasser gefüllt waren, trieb Bering zur Eile an, er fürchtete die früh einsetzenden Herbststürme, und obwohl er sich oft irrte auf dieser Expedition: Dieses Mal sollte er recht behalten. Die Rückreise geriet zum Albtraum, den viele Männer mit dem Leben bezahlten. Nach zweimonatiger Sturmfahrt zerschellte Berings Wunsch, vor dem Winter nach Kamtschatka zurückzukehren, an der Küste einer lebensfeindlichen Insel, auf der es an allem fehlte.

Doch Steller und auch Waxell machten sich sogleich daran, das Inselleben zu organisieren: Wasser holen, Feuer machen, Jagen wurde in Teamwork erledigt. Steller war Seelsorger, Arzt und Organisator in einem. Seine Beobachtungen, wie die Ureinwohner Sibiriens der Kälte trotzten, leisteten ihm wertvolle Dienste.

Die Not der Männer war groß. "Überhaupt waren Mangel, Blöße, Frost, Nässe, Kälte, Ohnmacht, Krankheit, Ungeduld und Verzweiflung die täglichen Gäste", notierte Steller. Hinzu kam ein grausamer Kampf Mensch gegen Tier. Die Insel wimmelte von Tausenden Steinfüchsen, diebische, schlaue Tiere, die ihnen alles wegfraßen, an Verstorbenen und sogar an den Schlafenden nagten.

Von Hunger und Kälte fast wahnsinnig, steigerten sich die Schiffbrüchigen in einen regelrechten Blutrausch, marterten, verstümmelten und töteten die Tiere zum Zeitvertreib. "Ich kann wohl während meines Aufenthalts auf der Insel auf mich allein über zweihundert ermordete Tiere rechnen", schrieb Steller.

Fast zehn Monate harrten die Überlebenden aus. Bering war nicht darunter, er starb am 8. Dezember 1741 mit 61 Jahren an Skorbut. Steller notierte: "Ohne Zweifel würde er am Leben geblieben sein, wenn er Kamtschatka erreicht und nur der Wärme eines Zimmers und frischen Speisen sich hätte bedienen können." Nach dem Winter bauten sich die Männer ein Boot aus den Resten der gestrandeten St. Peter. Am 17. August legten sie ab, zehn Tage später, am 27. August 1742, kamen die längst Totgeglaubten im Peter-und-Pauls-Hafen an.

16 Kisten voller Wissenschaft führten zu Stellers Anklage - und seinem frühen Tod

Steller forschte noch drei weitere Jahre in Kamtschatka. Auch den Itelmenen, die er "Kamtschadalen" nannte, galt sein wissenschaftliches Interesse. Sogar ihre Sprache und Gesänge hielt er in seinen Aufzeichnungen fest. Die Verachtung, die die Russen diesen Menschen entgegenbrachten, teilte er nicht. Im Gegenteil verurteilte er die Ausbeutung, Unterdrückung, Verfolgung dieser Volksgruppe und ergriff lautstark Partei für sie.

Damit zog er den Zorn der russischen Behörden auf sich. Im Sommer 1744 trat er seine Rückreise an, seine Forschungsergebnisse für die Akademie in St. Petersburg waren in 16 Kisten verpackt. 1745 erreichte er Irkutsk, wo er verhaftet und unter Anklage gestellt wurde. Der Vorwurf lautete, er habe die Ureinwohner aufgewiegelt.

Zwar wurde er freigesprochen, doch musste er nun im Winter die Weiterreise antreten, während der er an einem schweren Fieber erkrankte. Er starb mit 37 Jahren am 12. November 1746 in Tjumen, der ältesten Stadt Russlands. Als Lutheraner wurde er außerhalb geweihter Erde bestattet, sein Grab bei einer Überschwemmung des Flusses Tura zerstört.

Steller hat keines seiner Werke jemals gedruckt gesehen. Nicht weniger als 62 Abhandlungen Stellers zählte dessen Kollege Stepan Krascheninnikow. Nur ein kleiner Teil davon wurde veröffentlicht: 1751 die "Beschreibung der Meerthiere" - im Original "De bestiis marinis", 1774 die "Beschreibung von dem Lande Kamtschatka" sowie ebenfalls 1774 sein dritter Nachlassband "Reise von Kamtschatka nach Amerika".

Während Berings Name mit der Beringstraße, dem Beringmeer und der Beringinsel immerhin Eingang fand in "die kleine Unsterblichkeit der Lexika und Altanten", wie es der Schriftsteller Kurt Lütgen ausdrückte, starb Steller zu früh, um außerhalb der Wissenschaft einem größeren Kreis von Menschen bekannt zu werden.

Immerhin: Der Stellersche Seelöwe und die Stellersche Seekuh erinnern an ihn. Letztere hat Steller als einziger wissenschaftlich beschrieben, denn nur 27 Jahre nach dessen Entdeckung war das friedliche Tier bereits ausgerottet. Eine Skulptur der Seekuh vom fränkischen Bildhauer Christian Rösner steht seit 2009 am Schlüsselmarkt in Stellers Heimatort Bad Windsheim. Das Bad Windsheimer Gymnasium und die Steller Secondary School in Anchorage, Alaska, tragen seinen Namen.

Zwischen seiner Herkunft im beschaulichen Franken und dem fernen Fremden, das er betreten hat, liegen ein Kontinent und ein Ozean. Was ihn angetrieben hat, bleibt im Dunkeln, doch er hat seine insgesamt mehr als 20 000 Kilometer lange Reise ohne Wiederkehr wohl nicht bereut. In einem Brief an den Sibirienforscher Johann Georg Gmelin schreibt er rückblickend "... ich wollte die Erfahrung, so in der Natur auf der faulen Reise erlanget, nicht für ein großes Kapital tauschen".

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