Drogensucht in den USA:Alle sieben Stunden eine Überdosis

2016 0902 raid

Alltag in Huntington: Die Polizei nimmt bei einer Razzia 20 Junkies fest.

(Foto: Sholten Singer/The Herald-Dispatch)

In Huntington, West Virginia, sind 14 Prozent der Einwohner abhängig von Heroin und anderem Stoff. Die Feuerwehr löscht dort keine Brände mehr. Sie kämpft gegen eine Epidemie.

Von Hubert Wetzel, Huntington

Die junge Frau ist fast tot, als die Retter sie finden. Sie liegt da mit verdrehten Augen, schlaff und bleich, in einem verlassenen Haus, zwischen Schutt und Scherben und gefrorenen Kothaufen. Das bisschen Herzschlag, das sie noch hat, pumpt das Heroin durch ihre Adern. Nur ein paar flache Atemzüge trennen sie vom Tod. Die Männer packen die Frau und schleifen sie raus ins Freie, wo sich die roten und blauen Flackerlichter der Polizei- und Feuerwehrwagen zu einem ekligen, giftigen Lila mischen.

"Überdosis, und was für eine", sagt die Sanitäterin. "Weiß jemand, wie sie heißt?" "Der da vielleicht", sagt ein Polizist und zeigt auf einen Mann in dreckigen Jeans, der heulend herumsteht und seine Haare zerwühlt. Der Polizist geht auf den Junkie los. "Hey, Mann, ist das deine Freundin?", faucht er. "Wie heißt sie? Und was sollte das überhaupt, sie in diese beschissene Hütte zu bringen?" Der Junkie jammert. "Vorsicht, Nadeln", ruft ein Feuerwehrmann, der aus dem Haus kommt. Aus seiner Faust ragen drei dünne Spritzen. Die Sanitäterin beugt sich über die junge Frau und macht sich an die Arbeit.

Es ist früher Abend in Huntington, einer kleinen Stadt in West Virginia. Die Sonne ist hinter den schwarzen Bergen versunken, es wird eine eisige Nacht werden. Eine Frau liegt im Sterben, ihr Freund flennt, Helfer kämpfen um ein verlöschendes Leben, die Nachbarn glotzen, angelockt von dem bunten Geblitze und dem Lärm. "Es ist ein Albtraum", sagt der Polizist.

Aber eigentlich ist an diesem Abend alles nur wie immer.

Der Albtraum in Zahlen: Scott Lemley hat sie gesammelt. Er ist Mitte dreißig, ein drahtiger Mann. Lemley war schon immer gut in Mathe, deswegen hat ihn das Huntington Police Department zu seinem Statistiker gemacht. In seinem Büro verwaltet er Excel-Tabellen, Grafiken und Karten, alle sehr ordentlich und präzise. Aber wenn man sie zu einem Bild zusammensetzt, ergeben sie ein Höllengemälde.

Huntington hat 50 000 Einwohner, zusammen mit dem umliegenden Landkreis, Cabell County, sind es etwa 100 000. Lemley schätzt, dass 14 Prozent dieser Menschen drogenabhängig sind, die meisten von sogenannten Opioiden. Dazu zählt Heroin, das als graues oder braunes Pulver gehandelt wird; aber es gibt auch andere Opioide wie Oxycodon und Hydrocodon, starke Betäubungsmittel, die in Schmerztabletten enthalten sind, die die Junkies auflösen und spritzen oder schnupfen.

Oft geht das schief: 2015 gab es in Cabell County 944 amtlich erfasste Opioid-Überdosen, 70 davon endeten tödlich. Der älteste Tote, so steht es in Lemleys Listen, war 77 Jahre alt. Der jüngste Tote war zwölf.

Amerika wird von einer Welle aus Drogen und Tod überspült

Für dieses Jahr hat Lemley noch nicht alle Zahlen ausgewertet. Aber er weiß, es sieht übel aus. "Bei den Überdosen haben wir wohl einen Anstieg um 25 Prozent", sagt er. Das sind für 2016 knapp 1200 Fälle - eine Überdosis alle sieben Stunden. Im nächsten Jahr erwartet er eine weitere Zunahme um ein Viertel. Mit etwas Glück wird wenigstens die Zahl der Todesopfer nicht weiter steigen. Nur alle fünf Tage ein Toter, "das wäre ein Erfolg", sagt Lemley.

So furchtbar die Lage in Huntington ist, sie ist nicht außergewöhnlich. Überall in Amerika wütet derzeit eine Heroin-Epidemie. Überdosen durch Opioide töten inzwischen jährlich mehr Menschen als Autounfälle oder Schusswaffen - 33 000 Todesopfer waren es vergangenes Jahr. Anders als Crack, das in den Achtzigerjahren die schwarzen Viertel in den Großstädten verheerte, ist Heroin eine Droge der Weißen auf dem Land und in den Kleinstädten.

In West Virginia ist es katastrophal, aber in Vermont, New Hampshire oder Delaware im Nordosten ist es kaum besser; Ohio, Pennsylvania, Kentucky, Oklahoma, Utah, New Mexico - in allen diesen Bundesstaaten starben voriges Jahr zwischen 20 und 35 Menschen pro 100 000 Einwohner allein an Heroin und anderen Opioiden. Zum Vergleich: In Deutschland töteten 2015 alle illegalen Drogen zusammen 1226 Menschen; das entspricht einem Verhältnis von 1,5 Toten je 100 000 Einwohner.

Wir fahren ja nur noch zu Überdosen, kaum noch zu Bränden"

Auf der Feuerwache von Huntington gibt es Abendessen. Neun Männer schieben hier Nachtdienst, sie haben sich Hackbraten, Bratkartoffeln und Mais auf die Teller geladen, aber sie sitzen kaum, da fiept der Alarm. Für ein paar Sekunden halten die Gabeln auf dem Weg zum Mund inne, der Einsatzleiter knarzt aus dem Lautsprecher: "Engine Company 4, unbekannte männliche Person, Überdosis." Drei Männer winden sich in ihre dicken, braunen, feuerfesten Jacken und setzen die Helme auf. "Eigentlich brauchen wir die gar nicht mehr", sagt einer. "Wir fahren ja nur noch zu Überdosen, kaum noch zu Bränden." Die Männer steigen in den Einsatzwagen, die Sirene jault los.

Drogensucht in den USA: Dass die Todesraten nicht noch höher sind, liegt an einem Medikament: Narcan holt Süchtige nach einer Überdosis wieder zurück ins Leben.

Dass die Todesraten nicht noch höher sind, liegt an einem Medikament: Narcan holt Süchtige nach einer Überdosis wieder zurück ins Leben.

(Foto: Sholten Singer/The Herald-Dispatch)

Dieses Mal ist es ein großer, kräftiger Mann, der mit rasselndem Atem und blauem Gesicht in seinem Badezimmer liegt. Auf dem Weg zur Wohnung stolpert den Feuerwehrleuten eine Frau entgegen. "Sieh an, die kennen wir", sagt einer. "Das ist 'ne Nutte, die haben wir schon öfter bei so was gesehen." In der Wohnung liegen aufgerissene Weihnachtspäckchen und all die Utensilien, die man für einen Schuss Heroin braucht: ein Gummiband, abgebrochene Zigarettenfilter, Desinfektionsmittel, ein Feuerzeug. Nur die Spritze fehlt. "Kann sein, dass die Nutte die mitgenommen hat", sagt der Feuerwehrmann. "Das machen die Junkies manchmal, vielleicht war noch ein bisschen Heroin drin. Wie's aussieht, hat sie auch schnell noch die Weihnachtsgeschenke ausgepackt, bevor sie abgehauen ist."

Die Sanitäter drängeln in die Wohnung, sie haben das Wundermittel dabei: Naloxon, genannt Narcan. Naloxon ist ein Medikament, das die Wirkung von Opioiden im Körper blockiert. Man kann es einem Süchtigen, der sich eine Überdosis verpasst hat, in einen Muskel spritzen oder über die Nase verabreichen. Zumeist dauert es dann nur ein paar Minuten, bis der Junkie wieder aufwacht. Manche, die mitbekommen haben, dass sie gerade knapp dem Tod entkommen sind, bedanken sich bei ihren Rettern, erzählt ein Feuerwehrmann. "Aber manche haben auch eine Stinkwut, weil wir sie von ihrem High runterholen."

In Huntington haben alle Polizisten und Feuerwehrleute ständig Narcan dabei, sogar der Bürgermeister trägt es mit sich herum. Man weiß nie, wo ein Süchtiger umfällt - im Auto, an der Tankstelle, im Supermarkt, auf dem Klo bei McDonald's. Viele amerikanische Städte, die unter dem Heroin leiden, verteilen Narcan kostenlos an die Süchtigen, damit diese sich bei einer Überdosis gegenseitig helfen können. Dass die Todesraten nicht noch weit höher sind, liegt vor allem an diesem Medikament.

Der Mann im Bad braucht zwei Dosen Narcan, dann kommt er langsam wieder zu sich. "Wie heißt er?", fragt der Sanitäter. "Matthew", sagt einer der Feuerwehrleute, der den Führerschein des Mannes gefunden hat. "Hey, Matthew, wach auf, Alter", ruft der Sanitäter und rubbelt auf dem Brustbein des Ohnmächtigen herum. "Du hattest 'ne Überdosis, Mann. Erinnerst du dich? Wo ist die Spritze?" "Weissichnich", lallt Matthew. Die Sanitäter wuchten den Mann auf die Beine. "Du kommst jetzt mal mit ins Krankenhaus", sagt einer. Ein Polizist schreibt Matthew einen Strafzettel: 125 Dollar wegen Drogenmissbrauchs, eine Ordnungswidrigkeit. Dann fahren die Männer der Engine Company 4 zurück zu ihrem kalten Hackbraten.

Das Elend fing in den Neunzigern mit Opioid-Tabletten an

Die Welle aus Drogen und Tod, die Amerika jetzt überspült, hat sich über Jahrzehnte aufgetürmt. Angefangen hat das Elend in den Neunzigern mit den Opioid-Tabletten. Damals begannen Pharmafirmen und Ärzte, Millionen Amerikaner wahllos mit starken Schmerzmitteln wie Percocet, Oxycontin oder Vicodin zu füttern, die Opioide enthielten und schnell abhängig machten. So entstand ein Heer von Süchtigen, und aus dem legalen Markt wurde rasch ein illegaler. Korrupte Ärzte stellten jedem Abhängigen gegen Geld Rezepte aus; über kriminelle Apotheken und Arzneigroßhändler - so genannte pill mills - wurden Milliarden Schmerztabletten an die Süchtigen verschoben.

Allein nach West Virginia, ein Staat, in dem kaum zwei Millionen Menschen leben, wurden von 2007 bis 2012 fast 800 Millionen Opioid-Tabletten geliefert. In den vergangenen Jahren sind zwar viele pill mills geschlossen worden. Doch die Abhängigen blieben. Und plötzlich fehlte ihnen der Stoff für ihre Sucht. "Wir haben das einfach übersehen", sagt Lemley.

Die mexikanischen Drogenkartelle haben besser aufgepasst. Während der Preis für die knapper werdenden Tabletten um das Vier- oder Fünffache stieg, fluteten sie den amerikanischen Markt mit einem Ersatzprodukt: Heroin, billig wie Dreck und stark wie ein Hieb mit dem Vorschlaghammer. In Huntington kosten Opioid-Tabletten heute auf der Straße etwa einen Dollar pro Milligramm Wirkstoff; für eine Pille Oxycontin, in der 60 oder 80 Milligramm Oxycodon stecken, muss ein Junkie also 60 oder 80 Dollar hinlegen.

Mit Fentanyl gestrecktes Heroin

Für 20 Dollar bekommt er hingegen schon ein Zehntelgramm Heroin, genug für einen Schuss. Selbst bei diesem Preis machen die Drogendealer noch satte Gewinne. Sie haben für Huntington einen neuen Namen erfunden: "Moneyington" - Geldstadt. Die Polizei stört die Geschäfte kaum, sie kann pro Schicht gerade mal neun Mann auf Streife schicken. Neun.

Oft ist das Heroin mit Fentanyl gestreckt, ein weiteres, äußerst starkes Opioid, das als weißes Pulver verkauft wird. Schon ein paar Körnchen davon können tödlich sein. Die Kartelle kaufen das Fentanyl in China, mischen es in Mexiko mit Heroin und verschicken die mörderische Mixtur nach Norden. Manchmal ist das Heroin auch mit Carfentanyl verschnitten, ein Mittel, mit dem Tierärzte Elefanten betäuben. Wenn das auf den Markt kommt, bricht die Hölle los. Huntington wurde am 15. August von so einer Carfentanyl-Ladung erwischt, an einem einzigen sonnigen Nachmittag gab es in der Stadt binnen dreieinhalb Stunden 26 Überdosen, ein Mann starb. Die Feuerwehrleute erzählen davon wie von einer schrecklichen Schlacht.

Für eine kleine Stadt wie Huntington sind die Folgen der Heroin-Epidemie brutal. Die Droge beherrscht den Alltag, sie zerfrisst das soziale Geflecht. Die Süchtigen gieren nach Geld und Stoff, die Menschen haben Angst, von einem Junkie überfallen oder beklaut zu werden; sie haben Angst, dass im Restaurant ein Süchtiger röchelnd neben ihnen umkippt; sie haben Angst, im Stadtpark in blutige Spritzen zu treten.

"Jeder hier kennt jemanden, der süchtig ist"

Vor allem aber haben sie Angst um ihre Kinder und Familien. "Jeder hier kennt jemanden, der süchtig ist", sagt Lemley. "Jeder!" Die meisten Junkies sind arm, aber die Sanitäter retten auch Professoren und Anwälte, die sich eine Überdosis gespritzt haben. Kaputte Obdachlose sterben ebenso am Heroin wie Football-Stars vom College. Lemleys Tabellen zeigen, dass die meisten Süchtigen gerade zwölf, 14 oder 16 waren, als sie das erste Mal Heroin genommen haben. Für die geschätzt 14 000 Süchtigen gibt es in Huntington allenfalls ein paar Dutzend Therapieplätze.

Die einzigen Helden in dieser epischen Tragödie sind die Retter. Sie machen weiter, obwohl sie 30 oder 40 Tote im Jahr einsammeln. Immerhin, so sagen sie, hätten die Politiker inzwischen erkannt, dass es ein gewaltiges Problem gibt. Aber wie man es lösen kann, weiß niemand. "Das Heroin ist einfach überall", sagt Lemley. "Es ist billig, und es gibt unendlich viel."

"Am schlimmsten", sagt ein Polizist, "ist es, wenn wir zu einer Überdosis fahren und Kinder dabei sind." Manchmal sitzen die Kleinen starr und mit großen Augen auf einem versifften Sofa und schauen zu, wie die Sanitäter versuchen, Papa ins Leben zurückzuholen. Manchmal sind sie so abgebrüht, dass sie einfach über den Junkie am Boden hinwegsteigen, den die Feuerwehrleute beatmen. Ist ja wieder nur ein prügelnder Kerl, den Mama heimgebracht hat. Ein Polizist kann den Jungen nicht vergessen, der ihn anbettelte, seinen Daddy nicht zu verhaften. Der Vater hatte sich im Auto eine Überdosis gespritzt, seine beiden Kinder saßen auf der Rückbank. "Warum macht man das?", fragt der Polizist.

Die Jobs sind verschwunden - und mit ihnen das gute Leben und die Würde

Bei dieser Frage landen die meisten Helfer irgendwann. Warum? Warum bei uns? Manche sagen: Armut und Hoffnungslosigkeit. West Virginia lebte früher vom Kohlebergbau und vom Stahl. Es gab auch für einfache Leute gut bezahlte Jobs. Aber diese Jobs sind verschwunden - und mit ihnen das gute Leben und die Würde. Irgendetwas ist zerbrochen in der Gesellschaft, und es tut so weh, dass die Menschen den Schmerz mit Drogen betäuben. "Wer Heroin nimmt, spürt nichts Unangenehmes mehr", sagte eine Sozialarbeiterin. "Und irgendwann ist einem alles scheißegal."

Die Nacht ist ruhig, zwei Mal pfeift der Alarm, zwei Überdosen am anderen Ende der Stadt. Dann kommt doch noch ein Einsatz für die Engine Company 4, draußen im West End. "Zombieland" nennen die Feuerwehrleute diese Gegend wegen der vielen Junkies, die hier herumhängen. Vor einer Bruchbude weint eine Frau, drinnen stinkt es nach Fett und Zigaretten. Im ersten Stock liegt ein junger Mann, ein Sanitäter kniet über ihm. "Wie heißt er?", fragt er und spritzt eine Dosis Narcan, dann eine zweite. "Charles", sagt ein Polizist. "Hey, Charles", ruft der Sanitäter. "Alles klar? Du hattest 'ne Überdosis, Mann." Charles torkelt hoch, würgt einen Batzen Kautabak aus, murmelt irgendwas. "Danke, Leute, danke", sagt die weinende Frau, als die Sanitäter Charles in ihren Wagen heben.

Auch die junge Frau aus dem verlassenen Haus überlebt. Ihr Freund rückt endlich ihren Namen raus: Holly. Sie braucht drei Dosen Narcan, bis sie die Augen öffnet und wieder ruhig atmet. "Carfentanyl", vermutet die Sanitäterin. Und dann: "Hey, Holly, Herzchen. Willkommen zurück."

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