Schauplatz Berlin:Das Recht der Schwächeren

Schülerlotsen verkörpern das Recht der Schwächeren. Doch was passiert, wenn die Stärkeren gar nicht daran denken, dieses Recht zu respektieren? Wer kämpft dann gegen Pöbler und Drängler?

Von Lothar Müller

Anfang Januar gab die Werbellinsee-Grundschule in Berlin-Schöneberg bekannt, sie sehe sich gezwungen, ihr Schülerlotsen-Projekt bis auf Weiteres einzustellen. Das Sicherheitsrisiko für die Lotsen sei zu hoch. In dieser Woche zog eine Grundschule in Spandau nach. An beiden Schauplätzen hatten Autofahrer die Schülerlotsen in höchste Gefahr gebracht. Diese drastischen Vorfälle sind von einer Vielzahl alltäglicher Anpöbeleien und Abdrängungen umgeben, denen die jungen "Verkehrshelfer", wie sie offiziell heißen, immer häufiger ausgesetzt sind.

Die Kreuzung Eisenacher Straße / Luitpold-Straße, an der die Lotsen der Werbellinsee-Schule standen, ist aus der Sicht der Verkehrsstatistik keine gefährliche Kreuzung. Aber eben wegen ihrer Normalität böte sie dem rot-rot-grünen Senat, der keinen guten Start hatte, die Chance, sie zu einem exemplarischen Ort der Verkehrspolitik zu machen. Denn die Schülerlotsen verkörpern in besonderer Weise die Verletzlichkeit der Fußgänger im Autoverkehr. Sie sind in Berlin jünger als in den meisten anderen Bundesländern, wo sie mindestens 13 Jahre alt sein müssen. In Berlin sind sie schon ab der fünften Klasse, also mit elf Jahren im Einsatz, ihrer wichtigsten Zielgruppe kaum entwachsen, den Schülern der Klassen eins bis vier, die sie vor Schulbeginn und nach Schulschluss beim Überqueren der Straßen schützen sollen.

Der unbegleitete Schulweg ist für junge Menschen der Ausgang aus der Unmündigkeit

Die gelben Warnwesten der Lotsen und ihre Kellen sind Signale an die Autofahrer wie an die Mitschüler, zugleich aber Zeichen ihrer Teilhabe an der Exekutive des Verkehrsrechts, der Schutzmacht der physisch Schwächeren gegen diejenigen, die sich das Recht des Stärkeren herausnehmen. Wer einmal Schülerlotsen beobachtet hat, der weiß, wie geschickt sie das Recht des Schwächeren vertreten. Sie sind nämlich nicht befugt, wie Verkehrspolizisten zu agieren. Und sie sind keine Ampeln. Sie müssen, statt in den fließenden Verkehr einzugreifen, den Verkehrsfluss beobachten und Lücken antizipieren, die sich auftun. Gute Schülerlotsen sind Virtuosen defensiver Selbstbehauptung.

Die Schülerlotsen, die über die Ecke Eisenacherstraße / Luitpoldstraße wachten, hatten die Phasen der Ampelschaltung an der nahen Kreuzung Pallasstraße / Eisenacherstraße erkennbar in sich aufgenommen. Und während sie die Autos beobachteten, hatten sie zugleich die kleine Gruppe von Schülern am Straßenrand im Auge, die anwuchs, bis sie groß genug war, um eine der Lücken füllen zu können.

Für die Pöbler und Bedränger sind die Schülerlotsen ärgerliche Hindernisse. Für jede Verkehrspolitik im städtischen Raum, die weiß, dass ihr Gegenstand mehr ist als Infrastruktur, müssen sie eine unbedingt schützenswerte Gruppe des Gemeinwesens sein. Nicht nur, weil sie früh Verantwortung für dieses Gemeinwesen übernehmen. Sondern zugleich, weil sie ein hohes Gut sichern helfen, die Erfahrung der Zweit- oder Drittklässler, den Schulweg allein oder gemeinsam mit Klassenkameraden zu Fuß zu gehen, statt von Vater und Mutter aus dem Auto abgesetzt zu werden, das meist in der zweiten Reihe parkt und nicht selten durch seine Wendemanöver Schulhöfe unsicher macht.

Erfahrungen wie der unbegleitete Fußweg zur Schule gehören zum Nährboden der Selbständigkeit, zum Ausgang junger Menschen aus der Unmündigkeit. In Berlin wird angesichts der zunehmenden Drangsalierung der Schullotsen die "Kultur der Fairness" beschworen. Gut, wenn es sie gäbe. Bis dahin hilft nur Politik, Verkehrspolitik.

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