Türkei:Entscheidung zwischen Allmacht und Götterdämmerung

Erdogan

Will das Referendum für sich entscheiden: der türkische Präsident Erdoğan

(Foto: REUTERS)
  • Das Referendum in der Türkei am Sonntag markiert einen Wendepunkt für das Land.
  • Seine angestrebte Verfassungsreform würde Präsident Erdoğan mit schier uneingeschränkter Macht ausstatten.
  • Sollte die Mehrheit mit Nein stimmen, wird das Land hinterher aber auch nicht mehr dasselbe sein: Dann nämlich ist Erdoğan politisch angezählt.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Wie auch immer die Entscheidung über die künftige Machtfülle von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ausgeht, das Referendum am Sonntag markiert einen Wendepunkt für die Türkei. Sollte sich die Mehrheit der mehr als 55 Millionen wahlberechtigten Türken für den Wechsel zum Präsidialsystem entscheiden, dann beherrscht bald nur noch ein Mann das Land.

Die angestrebte Verfassungsreform würde Erdoğan mit schier uneingeschränkter Macht ausstatten. Er würde Chef der Exekutive, aber sein Einfluss würde auch bis weit ins Parlament und vor allem in die Justiz reichen. Das Prinzip der Gewaltenteilung würde ausgehebelt. Erdoğan verspricht den Bürgern Stabilität und Sicherheit. Sie bekommen vor allem: noch mehr Erdoğan.

Wenn er denn das Referendum für sich entscheidet. Die letzten Umfragen sagen einen knappen Ausgang voraus. Sollte die Mehrheit mit Nein stimmen, wird das Land hinterher aber auch nicht mehr dasselbe sein: Dann nämlich ist Erdoğan politisch angezählt. Dann hätte er den Nimbus des Unbesiegbaren verloren. Denn bisher hat der 63 Jahre alte, konservativ-islamische Politiker noch jede Wahl für sich entschieden, notfalls über den Umweg von Neuwahlen, wie 2015. Am Ende hat er immer bekommen, was er wollte. Der 16. April ist auch eine Entscheidung zwischen Allmacht und Götterdämmerung.

Der Wechsel zum Präsidialsystem wäre die wohl tief greifendste Reform

Nach der Gründung der Republik im Jahr 1923 und dem Übergang zum Mehrparteiensystem 1946 wäre der Wechsel zum Präsidialsystem die wohl tief greifendste Reform im Land. Seiner "neuen Türkei", an der Erdoğan arbeitet, seitdem seine AKP-Partei 2002 an die Macht kam, würde er einen großen Schritt näherkommen. Wie wichtig ihm diese Transformation ist, zeigt sich daran, welch hohen Preis er dafür zu zahlen bereit erscheint. Kaum eine Verfassungsreform zuvor hat die Gesellschaft so polarisiert.

Wer Erdoğans Projekt nicht unterstützt, ist nicht einfach nur anderer Meinung, was die Zukunft des Landes angeht. Präsident und Regierung haben die Gegner kriminalisiert und in die Nähe von Terroristen gerückt. Selahattin Demirtaş, der 2015 die kurdische Partei HDP unter anderem mit dem Versprechen ins Parlament geführt hat, es niemals zuzulassen, dass Erdoğan sich zum Superpräsidenten macht, sitzt seit November im Gefängnis.

Die Partei hat einen Großteil ihres Führungspersonals verloren. Wegen Terrorvorwürfen sind sie in Haft und können keinen Wahlkampf machen. Und noch eine Partei ist an Erdoğans Machthunger zerbrochen, die ultranationalistische Partei MHP. Ein Flügel um den Parteichef versucht, Erdoğan zur erforderlichen Mehrheit zu verhelfen. Ein anderer arbeitet dagegen an. Im Land wird auch nicht diskutiert, was gut für die Türkei ist. Die Menschen gehen sich aus dem Weg.

Selten war ein Wahlkampf so ungleich geführt worden

Außenpolitisch hat die Kampagne zum Referendum beträchtlichen Schaden angerichtet. Nachdem Erdoğan die Länder der Europäischen Union, vor allem Deutschland, mit Nazi-Vorwürfen überzogen hat, weil sie den Wahlkampf um in der EU lebende Türken behinderten, ist das türkisch-europäische Verhältnis von Misstrauen und Enttäuschung geprägt. Ein Beispiel dafür ist auch die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel. Erdoğan schloss nun eine Auslieferung an Deutschland ausdrücklich aus. "Auf keinen Fall, solange ich in diesem Amt bin, niemals", sagte er.

Der Streit um das Referendum ist auch zur Zerreißprobe für die anderthalb Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland geworden. Selten ist eine Kampagne so hart geführt worden. Nach Ansicht des Meinungsforschers Murat Gezici zielte sie auf jene 20 Prozent der Wähler ab, die bis zuletzt unentschlossen waren. Selten fiel es den Umfrageinstituten so schwer, ein klares Stimmungsbild zu zeichnen. Dies lag vor allem daran, dass sich womöglich jene, die die Reform ablehnen, bei den Befragungen eher nicht als Gegner zu erkennen gaben. Angesichts des großen Material- und Personaleinsatzes des Erdoğan-Lagers, das sich sämtlicher Staatsressourcen bediente, und der vielen Behinderungen der Gegner, ist es schon überraschend, dass die Mehrheit der Institute beide Lager in etwa gleichauf sehen. Denn selten war ein Wahlkampf so ungleich geführt worden; die Wahlbeobachter der OSZE übten heftige Kritik.

Sollte Erdoğan am Sonntag Erfolg haben, dürfte er sich rasch an die Umsetzung der Reform machen. Der Systemwechsel soll eigentlich erst mit den Wahlen im Jahr 2019 komplett vollzogen werden. Aber dass Erdoğan sich nach einem Votum für ihn so viel Zeit lässt, erwarten die wenigsten. Die Reform erlaubt es ihm, schon bald nach dem Referendum wieder nach dem Vorsitz seiner AKP zu greifen, eine Schlüsselposition der künftigen Machtarchitektur. Sollte er jedoch am Sonntag verlieren, steht ihm der eigentliche Machtkampf wohl erst noch bevor.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: