Manipulationsvorwürfe:Schatten des Verdachts

Türkei Referendum - Auszählung

Um diese Wahlzettel geht es. Nicht alle hatten den nötigen Stempel, argumentieren Kritiker.

(Foto: Emrah Gurel/dpa)
  • Dem vorläufigen Endergebnis zufolge stimmten 51,4 Prozent der türkischen Wählerinnen und Wähler für die Reform.
  • Die größte Oppositionspartei, die CHP, hat einen Antrag auf Annullierung des Volksentscheids gestellt.
  • Am Tag der Abstimmung hatte die Wahlbehörde die Regeln geändert. Auch ungestempelte Stimmzettel und Umschläge waren plötzlich zugelassen.

Von Mike Szymanski

Noch sind es überschaubare Gruppen, die an verschiedenen Stellen Istanbuls durch die Stadt ziehen. Hier ein paar Hundert Demonstranten, dort ein paar Hundert. Sie kamen Montagabend trotz des strömenden Regens. Aber die Wut, die Enttäuschung, sie musste wohl raus: "Kadıköy, sei nicht leise, verteidige dein Nein!", riefen sie durch die Gassen des Stadtteils im asiatischen Teil der Stadt. Und obwohl das Parlament am Dienstag den Ausnahmezustand um drei Monate verlängerte, der auch das Versammlungsrecht einschränkt, wollten die Demonstranten am Abend wiederkommen.

Nach dem Referendum vom Sonntag, der Entscheidung zwischen einem Ja und einem Nein zum Präsidialsystem, das Recep Tayyip Erdoğan jetzt umsetzt, gibt es nicht nur Sieger und Verlierer. Es gibt auch die Zweifler: War das Ja vom Sonntag wirklich ein Ja? Dem vorläufigen Endergebnis zufolge stimmten 51,4 Prozent der Türken für die Reform. Sie verleiht Erdoğan deutlich mehr Macht als bisher. 48,6 Prozent lehnten sie ab.

Der Abstand zwischen den beiden Lagern beträgt 1,38 Millionen Stimmen. Aber viele Reformgegner erkennen das Ergebnis nicht an. Die größte Oppositionspartei, die CHP, hat am Dienstag bei der Hohen Wahlkommission einen Antrag auf Annullierung des Volksentscheids gestellt. Hunderte Bürger kamen mit der gleichen Absicht zur Wahlbehörde in Ankara.

Die oppositionelle CHP bezeichnet die Abstimmung als "rechtswidrig"

Am Tag der Abstimmung, als die Wahl schon angelaufen war, hatte die Wahlbehörde die Regeln geändert. Auf einmal waren auch Stimmzettel und Umschläge zugelassen, die nicht von ihr gestempelt worden waren. Dabei verlangt das Wahlgesetz ausdrücklich die amtlichen Stempel. Noch am Morgen hatte die Behörde selbst darauf hingewiesen.

Ein paar Stunden später galt das nicht mehr. Auf Betreiben des AKP-Vertreters im Gremium sei beschlossen worden, auch Stimmzettel ohne Stempel zu werten. Die Wahlkommission verteidigte den Schritt damit, dass Wähler nicht ungerecht behandelt werden sollten, denen versehentlich Stimmzettel ohne Siegel ausgehändigt worden seien. Keiner der für gültig erklärten Stimmzettel sei gefälscht oder betrügerisch abgegeben worden. Aber damit gibt sich die Opposition nicht zufrieden. Im Antrag der CHP heißt es, die Wahl sei "rechtswidrig". "Nicht einmal am Wahltag hat man sich an die Wahlgesetze gehalten", sagt Parteivize Bülent Tezcan.

Im Wahlkampf sind die Oppositionsparteien unfaire Bedingungen schon gewohnt. Aber der Tag der Entscheidung, die Wahl selbst, galt bislang als kaum zu beanstanden. Dies liegt daran, dass die Parteien in den wichtigen Wahlgremien vertreten sind und als Beobachter auftreten können. Unregelmäßigkeiten gibt es immer wieder. Säcke mit weggeworfenen Stimmen etwa.

Im Internet machen jetzt Videos von mutmaßlichen Manipulationen die Runde. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob das Ausmaß des Betrugs das Ergebnis maßgeblich verändern kann. Großflächiger, systematischer Betrug würde im türkischen System auffallen. Und kleinere Betrügereien wären bei den vergangenen Parlamentswahlen nicht ins Gewicht gefallen: Die Resultate waren eindeutig. Bei diesem Referendum aber ist der Ausgang knapp, so knapp, dass Zweifel ausgeräumt werden müssten.

Das Ausmaß an ungestempelten Stimmen ist nicht bekannt

Die Wahlbehörde tut sich jedoch schwer damit. Bis jetzt ist es ihr nicht einmal möglich, überhaupt das Ausmaß an ungestempelten Stimmen zu benennen. "Das wissen wir noch nicht", sagte ein nicht namentlich genanntes Mitglied der Wahlkommission der Zeitung Cumhuriyet. Der Kommissionschef Sadi Güven wird in der Zeitung Vatan mit den Worten wiedergeben: "Wir wissen nicht, ob es 10 000 oder 20 000 solcher Stimmen gibt." Diese Größenordnung wäre eher zu vernachlässigen. Außerdem müsste der Nachweis erbracht werden, dass es sich tatsächlich um gefälschte Stimmen handelt.

Aber die türkischen Medien sind am Dienstag voll von noch ganz anderen Berichten. Es gebe den Verdacht, dass bis zu 2,5 Millionen Stimmen manipuliert worden seien, sagte die vom Europarat als Beobachterin entsandte österreichische Grünen-Abgeordnete Alev Korun dem ORF. Die Beschwerden hätten ein Ausmaß, welche das Wahlergebnis drehen würde, sagte sie.

Wie die EU nun reagieren könnte

Die Europäische Union tut sich schwer mit einer klaren Antwort auf den Ausgang des Verfassungsreferendums in der Türkei. Wirkliche Klarheit herrscht nur darüber, dass die Türkei nach einer Wiedereinführung der Todesstrafe kein Beitrittskandidat mehr wäre. Dies ist nach den Worten von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker "die röteste aller roten Linien". Die bedingungslose Ablehnung der Todesstrafe bilde eines der Fundamente der EU. "Sich bei der Todesstrafe von Rhetorik zu Taten zu bewegen, wäre ein klares Signal, dass die Türkei kein Mitglied der europäischen Familie sein will", warnte er.

Das kann so verstanden werden, dass schon die Ausrufung eines Referendums über die Wiedereinführung der Todesstrafe durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum Ende der Beitrittsverhandlungen führen würde. Doch auch vor so einem Schritt kann die EU nach Ansicht etwa des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn nicht so tun, als ob nichts wäre. "Ein Beitritt der Türkei zur EU ist mit der neuen Verfassung und diesem Autokraten nicht möglich", sagte Asselborn der Süddeutschen Zeitung. Allerdings liege der Erweiterungsprozess derzeit ohnehin faktisch auf Eis. Der Moment, ihn offiziell auszusetzen oder zu beenden, sei aber noch nicht gekommen. "Erdoğan tut alles, damit die EU die Brücken abbricht. Diesen Gefallen dürfen wir ihm nicht tun", sagte er. Fast 50 Prozent der Türken hätten "Mut bewiesen" und gegen die Verfassungsänderung gestimmt. Diese Menschen dürfe die EU nicht im Stich lassen. Gegenüber Erdoğan müsse sie vielmehr ihre wirtschaftliche Stärke als mit Abstand wichtigster Handelspartner nutzen. Immerhin kämen 65 Prozent der Investitionen in der Türkei aus der EU. Daniel Brössler

Die internationalen Wahlbeobachter der OSZE können diese Zahl nicht bestätigen. Tana de Zulueta, Leiterin der OSZE-Wahlbeobachtermission in der Türkei, sagte der Süddeutschen Zeitung, sie hätten von der Wahlbehörde keine Angaben darüber bekommen. Sie kritisierte, dass die Wahlkommission die Regeln am Wahltag geändert hatte. Dadurch sei eine wichtige Schutzvorschrift unterlaufen worden.

Vorwürfe aus dem Ausland hält Erdoğan für "politisch motiviert"

Nicht nur die fragwürdigen Vorgänge am Tag der Abstimmung werfen einen Schatten auf das Ergebnis. Auch die politischen Umstände, in denen die Wahl stattfand, haben den Wahlbeobachtern zufolge Einfluss. Als Folge der wiederaufgeflammten Kämpfe zwischen der terroristischen PKK und der Armee waren nach Schätzungen bis zu 500 000 Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.

Die OSZE hatte bereits vor dem 16. April darauf hingewiesen, dass etliche dieser Menschen im Wählerverzeichnis womöglich nicht mit ihren neuen Daten registriert seien. Dafür gab es ein kurzes Zeitfenster nach Ankündigung des Referendums. Die Leute hätten andere Sorgen gehabt, als sich um diese Formalitäten zu kümmern. Tana de Zulueta bestätigte, dass es am Wahltag Fälle von Bürgern gegeben habe, die nicht abstimmen konnten. Das Ausmaß bleibt im Unklaren. Manche Regionen wurden wegen der anhaltenden Kämpfe zu Sicherheitszonen mit besonders hoher Polizeipräsenz erklärt. Dies könnte nach Ansicht der OSZE Bürger vom Wählen abgehalten haben. Darauf deuten auch niedrigere Werte bei der Wahlbeteiligung in manchen Gegenden hin.

Für Präsident Erdoğan sind das alles keine Gründe, an seinem Erfolg vom Sonntag zu zweifeln. Er geht lieber die Kritiker an, die Vorwürfe aus dem Ausland hält er für "politisch motiviert". Es sei die "demokratischste Wahl" aller Zeiten gewesen, sagt er. Der Premier, Binali Yıldırım, sagt am Dienstag vor Abgeordneten, "alle müssen das Ergebnis respektieren". Es sei falsch, etwas zu sagen, "nachdem die Nation gesprochen hat". Er will nichts mehr hören.

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