Präsidentschaftswahl:Frankreich zersplittert

Präsidentschaftswahl: Wahlplakate in Paris: Am kommenden Sonntag findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt.

Wahlplakate in Paris: Am kommenden Sonntag findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt.

(Foto: AP)
  • Der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich zeigt, dass das Land in einer tiefen Krise steckt.
  • Die Verachtung zwischen Unter- und Oberschicht beruht offenbar auf Gegenseitigkeit.
  • So kommt es, dass die Rechtsextreme Marine Le Pen zumindest in der ersten Runde Chancen auf die meisten Stimmen hat.

Analyse von Lilith Volkert

Selten sah man so viele Favoriten untergehen wie in diesem Wahlkampf. Bei den Vorwahlen der beiden großen Parteien flogen die bis dahin vielversprechendsten Kandidaten raus. Der konservative Kandidat François Fillon hat sich mit einer Finanzaffäre um den schon sicher geglaubten Sieg gebracht, der Sozialist Benoît Hamon hat von vornherein keine Chance.

Das politische Leben in Frankreich ist momentan kein "langer, ruhiger Fluss", wie es im Titel einer bekannten französischen Komödie heißt. Sondern ein unberechenbarer Strom, der mit den Favoriten auch die Gewissheiten fortgespült hat. Der Terror tut dazu sein Übriges: Am Donnerstag wurde Paris erneut zum Tatort, als ein Bewaffneter einen Polizisten erschoss.

Zeitgleich war im französischen Fernsehen eine absurde Veranstaltung zu sehen, die hervorragend zur Veranschaulichung der zersplitterten Politik taugte: Der Sender France 2 interviewte alle elf Kandidaten, nacheinander. Vier Stunden dauerte die Sendung - eine Notlösung, nachdem eine Debatte mit elf Teilnehmern chaotisch verlaufen war und mehrere Kandidaten eine zweite Auflage schlicht verweigert hatten.

Gegen ein offenes Rennen ist nichts zu sagen, die aktuelle Situation ist allerdings vor allem Ausdruck einer beispiellosen Krise. Nur zwei Dinge sind wenige Tage vor dem ersten Wahlgang sicher: Marine Le Pen, die Chefin des rechtsextremen Front National, wird noch besser abschneiden als bei der letzten Präsidentschaftswahl. Im ersten Wahlgang könnte sie sogar die meisten Stimmen bekommen. Und: Die beiden großen Volksparteien - Parti Socialiste und Les Républicains - erreichen die Franzosen nicht mehr. Es sieht so aus, als würden ihre Kandidaten schon in der ersten Runde ausscheiden. Wie ist es so weit gekommen?

"Die Verachtung für die Eliten ist wohl nie größer gewesen", beschreibt die Publizistin Natalie Nougayrède eine Entwicklung, die es in vielen Ländern gibt. In Frankreich ist die soziale Durchlässigkeit aber besonders gering, es gibt kaum Berührungspunkte zwischen Unter- und Oberschicht und somit auch wenig Verständnis füreinander. Wer in der Politik etwas zu sagen hat, war mit Sicherheit auf einer der wenigen Elite-Hochschulen. Die Anwältin Marine Le Pen, die an einer öffentlichen Universität ausgebildet wurde, ist auch in diesem Punkt eine Außenseiterin. Ein Spitzenpolitiker ohne Abitur wie der deutsche Kanzlerkandidat Martin Schulz wäre in Frankreich völlig undenkbar.

Die Verachtung beruht offenbar auf Gegenseitigkeit. "Die französischen Eliten schämen sich für Frankreich", hat die Politikerin Marie-Françoise Bechtel beobachtet, die bis 2002 die Elite-Universität ENA leitete. "Gleichzeitig treten sie sehr arrogant auf." Über den scheidenden Präsidenten François Hollande war in den vergangenen Jahren immer wieder zu hören, dass er sich abschätzig über einfache Leute geäußert habe.

Dass Politiker gierig, anmaßend und realitätsfremd sind, diese Annahme vieler Franzosen hat der Kandidat der Konservativen, François Fillon, in diesem Wahlkampf aufs Trefflichste bestätigt. Erst inszenierte er sich als katholischer Saubermann, dann wurde bekannt, dass er seine Gattin jahrelang zum Schein beschäftigte und ihr ein üppiges Gehalt aus der Parlamentskasse zahlte. Als Reaktion auf die Vorwürfe säte Fillon Zweifel an der Rechtschaffenheit der Justiz.

Beängstigend ist vor allem die Jugendarbeitslosigkeit

Bisher wechselten sich Sozialisten und Konservative an Staatsspitze und Regierung ab. Selbst wenn Parteinamen in Frankreich häufig wechselten und Gruppierungen sich verbündeten und wieder trennten: Stets standen sich zwei Lager gegenüber. In den vergangenen Monaten konnte man zusehen, wie diese immer mehr zersplittern. Präsident François Hollande hat dazu beigetragen, seine eigene Partei zu spalten. Von seinem linken Wahlprogramm ist er auf einen rechten, wirtschaftsfreundlichen Kurs umgeschwenkt, den er dem linken Parteiflügel nicht vermitteln konnte.

Auch die Vorwahlen der Sozialisten und der Republikaner mit jeweils sieben Kandidaten haben den Parteien nicht unbedingt gut getan. Um sich voneinander abzugrenzen, mussten die Anwärter auf die Präsidentschaft ihre Positionen enorm zuspitzen. Bei einigen wirkte es, als sei ihr größter Gegner nicht im anderen politischen Lager zu finden, sondern unter den Mitbewerbern. Vor allem der sozialistische Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon tut sich gerade schwer, die Gräben in seiner Partei wieder zu schließen.

Hinzu kommt, dass in den vergangenen zehn Jahren weder der konservative Präsident Nicolas Sarkozy noch der Sozialist Hollande die schwierige wirtschaftliche Lage in den Griff bekommen haben. Zwar ist das Land der Rezession vorerst entkommen, doch die Staatsverschuldung steigt weiter und die Arbeitslosigkeit ist mit zehn Prozent konstant hoch. Beängstigend ist vor allem die Jugendarbeitslosigkeit: Jeder Vierte der 18- bis 24-Jährigen findet keinen Job.

Wirkmächtiger als schlechte Zahlen sind aber schlechte Gefühle: Immer mehr Franzosen haben Angst vor der Zukunft, sind frustriert angesichts der eigenen - angenommenen oder realen - Machtlosigkeit und überzeugt, dass Frankreich die beste Zeit hinter sich hat. Dass das Land seit Jahren in einer Identitätskrise steckt, haben bis hin zum Premierminister schon viele festgestellt, ohne dass dieser Erkenntnis wirkungsvolle Gegenmaßnahmen gefolgt wären. Debatten über die "nationale Identität" wurden meist von rechts angestoßen und haben Frankreich mehr gespaltet als vereint.

Die Globalisierung hat das Land zu einem unter vielen degradiert. Das ist äußerst verletzend für die Erben der Französischen Revolution, für die nationales Prestige stets wichtiger war als für andere. "Die oft krampfhafte Suche nach den Besonderheiten Frankreichs spiegelt ein Gefühl der Orientierungslosigkeit von Menschen wider, die ihre traditionellen Anhaltspunkte verloren haben", analysiert Claire Demesmay von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Es profitiert: Marine Le Pen

Neu hinzugekommen ist ein tief sitzendes Gefühl der Bedrohung. "Die Terroranschläge von Paris und Nizza haben die ganze Nation traumatisiert", schreibt die Publizistin Natalie Nougayrède. 239 Menschen sind seit 2015 bei Attentaten gestorben, hunderte wurden verletzt. Erst am Donnerstagabend wurde ein Polizist auf den Champs-Élysées in Paris von einem mutmaßlichen Attentäter des Islamischen Staates erschossen. Besonders getroffen hat viele die Tatsache, dass diese Anschläge zum Teil von französischen Staatsbürgern verübt wurden.

Auch hier hat die sozialistische Regierung Fehler gemacht: Mit der Debatte, ob man Terroristen den französischen Pass entziehen solle, hat Ex-Premier Manuel Valls eine konstruktive Debatte über Frankreichs Verhältnis zur wachsenden Minderheit der Muslime verhindert. Auch über die Missstände im Bildungssystem und die Folgen der Jugendarbeitslosigkeit wurde nicht gesprochen.

Von all diesen Punkten profitiert Marine Le Pen. Der Front National war außer in ein paar Gemeinden nie an der Macht, muss sich also auch für nichts verantworten. Angesichts der Zerrissenheit der anderen Parteien präsentiert sich der FN - ein vor 45 Jahren gegründetes Familienunternehmen - als geschlossene Einheit. Le Pen nimmt die Ängste der Leute auf und präsentiert einfache Lösungen: Raus aus der EU, Franzosen immer zuerst, maximal 10 000 Einwanderer pro Jahr. Und im Vergleich zu ihrem Vater, dem greisen Parteigründer Jean-Marie Le Pen, will sie nicht nur provozieren, sondern wirklich an die Macht.

Es ist kein Zufall, dass ein weiterer gut platzierter Kandidat keine klassische Politikerkarriere hat und das Wort Partei nicht gerne in den Mund nimmt. Emmanuel Macron, der sich als Quereinsteiger rasch hocharbeitete und unter Hollande zwei Jahre lang Wirtschaftsminister war, hat vergangenes Jahr "En Marche!" gegründet. Eine, wie er sagt, für alle offene Bürgerplattform und keine Partei. Sein Programm ist vage, doch er weckt bei vielen Menschen Begeisterung. Glaubt man aktuellen Umfragen, dann kommt Macron neben Le Pen in die Stichwahl. "Favorit" sollte man ihn bis dahin nicht nennen.

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