Kolumne:Demos

Marinic

Die Unübersichtlichkeit des modernen Lebens empfinden viele Menschen als Zumutung. Politik muss ihnen heute zeigen, dass sie trotzdem als Bürger gemeint sind.

Von Jagoda Marinic

Die kleinste Stadt der Welt liegt in Istrien. Sie heißt Hum, thront auf einem Berg und ist durch ein kupfernes Stadttor zu betreten. Etwa zwanzig Menschen leben dort. Sie haben eine Kirche, pflegen einen Friedhof mit italienischen und slawischen Familiennamen. Der ehrenamtliche Bürgermeister wird jährlich nach einem alten Brauch bestimmt: Die Bürger schnitzen dem Kandidaten ihrer Wahl eine Kerbe in ein Weichholz. Der Kandidat mit den meisten Kerben auf dem Holz wird Bürgermeister für ein Jahr. Die Kürze der Amtszeit erinnert an das alte Athen. In seinem Amtsjahr wird dieser Bürgermeister sehr genau wissen, was die Bewohner seiner kleinen Stadt beschäftigt und er wird ihnen täglich Rede und Antwort stehen. Hum ist der konservierte Inbegriff einer frühmittelalterlichen Siedlung, die hinter Stadtmauern gebaut wurde.

Die Wut der Bürger lässt sich nicht mit Soziologie wegerklären

Diese vermeintlich idyllische, abgeschottete Form der Gemeinschaft vermissen heute viele: Jeder kennt jeden und jeder versteht etwas von den Problemen im Ort. Beim Brexit war das anders. Im Gegensatz zu den Einwohnern von Hum scheinen heute viele nicht mehr zu wissen, wo ihre Stadt beginnt und endet, wer ihre Bürger sind und wer bei ihren Wahlen überhaupt noch eine Kerbe ins Holz schlagen soll und wofür. Die Übersichtlichkeit dieses Fleckchens Erde entlarvt die Unübersichtlichkeit des modernen Lebens als Zumutung. Ständig werden wir von Personen regiert, über Sachverhalte informiert, die uns ferner nicht liegen könnten. Vielleicht gründet selbst Trumps Twitter-Erfolg auf dem Wunsch vieler Bürger, nach dem Aufstehen mit ihrem Staatschef ein paar Worte zu wechseln, als wäre er der ehrenamtliche Bürgermeister der kleinsten Stadt der Welt. Mit Sicherheit wird auf diesem Berg in Istrien verstehbar, weshalb der ländliche Raum anders wählt als die Städte. Bürger wollen gemeint sein.

Die meisten Bürger haben jedoch ihre politischen Vertreter noch nie persönlich getroffen. Sie wissen nicht, welchen Nutzen und Schaden er oder sie ihnen bringt. Und die Probleme der Welt? Ständig werden einem andere vorgesetzt als jene, mit denen man täglich zu kämpfen hat. Es ist zu viel. Das Differenzieren ermüdet. Politische Entscheidungsfindung als Weg des mühseligen Aushandelns ist nicht mehr das erfolgreichste Exportmodell der westlichen Welt. Viele wünschen sich jemanden, der dieses Wirrwarr übersichtlich macht. Es ist schließlich auch die eigene Kompetenz, die der demokratische Prozess täglich infrage stellt. Ein autoritärer Herrscher spart Kraft und Zeit.

In Demokratien wird zermürbend über alles gestritten, unter anderem darüber, wer wählen darf, was gleichbedeutend ist mit der Frage: Wer darf hinter meiner Stadtmauer wohnen? Wer gehört zu meiner Gemeinschaft? Wer ist das Staatsvolk?

Die Wahlen in Europa, als nächstes in Frankreich, sind nicht zu gewinnen, indem man mit Soziologie und Statistiken die Wut jener Bürger wegerklärt, die unserer Demokratie derzeit wenig abgewinnen können. Bürger, die von ihren Regierungen keine Antworten erhalten auf ihre unbefriedigenden Lebensbedingungen, aber gleichzeitig solidarisch sein sollen. Bürger, die zunehmend gefürchtet werden als Demos, weil sich ihre vermeintliche Irrationalität nicht auflösen lässt.

In Frankreich droht derzeit eine große Zahl von Wählern, den Gang zur Urne zu boykottieren. In anderen Ländern unterstützen Bürger autoritäre Herrscher, weil diese es richten sollen. Die Achillesferse der Demokratie ist getroffen, wenn der demokratische Bürger sich für verzichtbar hält, weil er keinen Sinn oder Gewinn in seiner Wahlhandlung sieht. Was misslingt den Politikern hier? Sie stellen den Demos nicht ins Zentrum der Demokratie. Der Herrscher ist Diener, in diesem Paradox agiert der Mächtige in einer Demokratie. In Hum würde das heißen: Der Bürgermeister muss den Menschen vermitteln, was er für sie bewirkt, weshalb er ihre Mitwirkung braucht - und ihre Gunst. Sonst sitzt nächstes Jahr die Kerbe auf dem Weichholz eines anderen. Demokratie zeichnet aus, dass der Herrscher um seine Herrschaft werben muss, sie weder erben noch erzwingen kann. Das Werben haben jedoch seit Pegida, seit der AfD, seit Trump und Le Pen eher jene übernommen, deren Agenda als undemokratisch bezeichnet wird.

Demokratische Herrschaft ist immer auch die Verpflichtung zum Gespräch mit dem Volk. Das Volk ist dabei weit mehr als das Staatsvolk. Die Länder, in denen etwa türkische Minderheiten leben, hätten jüngst wieder einsehen können, dass politische Willensbildung nicht bei den Menschen mit Bürgerrechten in Deutschland enden darf. Ist es sinnvoll, in einer diversen Gesellschaft mit harter Kante die eigenen Wähler zu befriedigen, wenn man dadurch indirekt einem ausländischen Wahlkämpfer in die Hände spielt, wie beim Referendum in der Türkei? Das Schicksal derer, die nun dort mit einem System leben werden, das sie nicht befürworten, lag auch im rhetorischen Geschick der hiesigen Politiker: Dort, wo es Auftrittsverbote gab, war die Zustimmung am größten.

Aufgrund solcher komplexen Zusammenhänge mit dem Rest der Welt sehnen sich viele nach einer Festung, nach Mauern und Zäunen. Als wäre dann nur noch das drin, was sich nachvollziehen und lösen lässt. Doch die heutigen Probleme sprengen alles, was mit einer Stadtmauer, wie wir Europäer sie seit dem Mittelalter als Königsweg der Verteidigung kannten, lösbar wäre. Das Überleben der westlichen Demokratien wird davon abhängen, ob ihre Verteidiger eine Sprache finden, die ihre Bürger in ihrer Gesamt- und Verschiedenheit erreicht. Wen störten früher schon Nichtwähler? Man kommentierte sie mit lahmen Theorien über Politikverdrossenheit und gut war es. Wie Hefeteig ist diese Politikverdrossenheit unter der aufrührerischen Hitze der neuen rechten Bewegungen aufgegangen. Der Vorteil könnte sein, dass man nun weiß, wo die Unzufriedenen zu finden sind und was sie aufgebracht hat. Die europäischen Politiker müssen jetzt genug bieten, um die Kerbe ins Weichholz der Demokratie zu schlagen.

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