G-20-Gipfel:Zorniger Protest muss erlaubt sein

Plakate gegen G20-Gipfel in Hamburg

Plakate gegen den G-20-Gipfel in Hamburg

(Foto: dpa)

Regiert beim G-20-Gipfel die Vernunft und bei den Demonstranten die Unvernunft? Selten war das so unklar wie heute - und selten war der Protest so berechtigt.

Kommentar von Matthias Drobinski

Hamburg nennt sich gern das Tor zur Welt, in dieser Woche, da sich die mächtigsten Staats- und Regierungschefs der Welt dort versammeln, schließt die Stadt die Tore und rüstet sich fast wie zum Krieg, setzt 20 000 Polizisten ein, samt Anti-Terror-Spezialeinheiten und einer Gefangenensammelstelle für gewalttätige Demonstranten.

Das ist im Grundsatz richtig, weil das Land Hamburg Terroranschläge verhindern muss und auch, dass Autonome die Stadt mit Gewalt, Schrecken und Zerstörung überziehen.

Die Aufrüstungsrhetorik mancher Politiker und auch der Kleinkrieg der Polizei gegen die Teilnehmer eines Protestcamps zeigt jedoch die Probleme dieses Sicherheitskonzeptes: Wer gegen den G-20-Gipfel demonstriert, ist irgendwie verdächtig, geduldet halt; er stört den Ablauf mit irrelevantem Einspruch - und am Ende noch die gute Laune der Versammelten und damit die Verhandlung der Weltprobleme.

Der zugespitzte Protest hat nicht immer recht, aber er ist wichtig

Es gibt in Deutschland aber keine Demonstrationsgnade, es gibt ein Demonstrationsrecht. Es ist eines der wichtigen Freiheitsrechte in einer Demokratie, keine Zusatzleistung des Staates, kein Luxus, der bei zu hohen Kosten gestrichen werden könnte. Hinter dem Demonstrationsrecht steht die Erkenntnis, dass diese Demokratie auch jenseits des Parlaments und der Medien Orte des Meinungsausdrucks braucht, des Protests, des gerechten wie des ungerechten Zorns.

Dass eine Demonstration vereinfacht, liegt in ihrer Natur; auch, dass Demonstranten - gewaltfrei - an Grenzen gehen, blockieren, sich anketten, wie 1995 das Bundesverfassungsgericht entschieden hat.

Diese zornige Zuspitzung hat nicht immer recht, sie schlägt aber immer wieder der Wahrheit eine Gasse. Vor 50 Jahren hofierten Politiker und Medien den persischen Schah - es waren die zornigen Studenten, die den Mann das nannten, was er war: ein Diktator, der seine Gegner foltern und hinrichten ließ.

Nun, auf dem Hamburger Gipfel, muss Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Amerikas Donald Trump so höflich umgehen wie mit Recep Tayyip Erdoğan aus der Türkei, Wladimir Putin aus Russland oder Chinas Präsident Xi Jinping; so sind aus gutem Grund die Regeln der Diplomatie. Umso dringender notwendig sind da Demonstranten, die all die Gefährder von Weltfrieden und Weltklima auspfeifen, die Autokraten und Menschenrechtsverletzer.

Ja: Der innerweltliche Messianismus eines Teils der Demonstranten kann nerven, wenn sie einem das Paradies verheißen, ist erst einmal der böse Kapitalismus beseitigt. Und auch bei den diversen Hamburger Märschen für die bessere Welt laufen Leute mit, die sich so ungern mit anderen Meinungen konfrontieren lassen wie der amerikanische oder türkische Präsident.

Bedenkenswerte Gedanken zu einer Welt mit weniger Armut, Gewalt, Flüchtlingen

Es kommen - und kamen am vergangenen Sonntag - aber auch Menschen, die sich in Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen, bei Attac oder in Kirchengemeinden ziemlich viele und bedenkenswerte Gedanken darüber machen, wie man zu einer Welt mit weniger Armut, Unrecht, Gewalt und Flüchtlingen kommen könnte. Lässt sich da noch so einfach sagen, dass in den Messehallen beim G-20-Treffen die Vernunft regiert und bei den Demonstranten die Unvernunft?

Am 3. September 1911 demonstrierten im Treptower Volkspark 200 000 Menschen für den Frieden; Kaiser Wilhelm hatte gerade das Kanonenboot Panther ins marokkanische Agadir geschickt, die nationale Presse überschlug sich vor Begeisterung, Krieg lag in der Luft. Aber da waren 200 000 Menschen, die das nicht wollten, auch Zehntausende Franzosen nicht. Sie wurden als naive Utopisten und Vaterlandsverräter beschimpft.

Drei Jahre später war der Weltkrieg da; es dauerte bitter lange, bis sich die Utopie der Demonstranten durchgesetzt hatte: dass Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen nicht mehr aufeinander schießen. Aber es waren auch jene 200 000 Menschen, die diese Idee in die Welt brachten; so wie 1983 auch 300 000 Menschen der Idee eine Stimme gaben, dass die menschheitsbedrohende Konfrontation der Blöcke vorbei sein sollte. Sieben Jahre später, nach vielen mutigen Demonstrationen in der DDR und ganz Osteuropa, war es so weit.

Das sollten alle bedenken, die nun die Anti-G-20-Demonstrationen unter strukturellen Verdacht stellen; das sollten auch alle bedenken, die diese Demonstrationen von oben herab belächeln, sich über den manchmal unterkomplexen Eifer lustig machen: bringt doch sowieso nichts.

Das sollten aber auch alle Organisatoren der linksautonomen Demonstrationen bedenken, welches Erbe und hohe Gut sie gefährden, wenn sie sich nicht von den Gewalttätern trennen: Es braucht einen Raum für den zornigen Protest, der an der Welt leidet, wie sie ist. Räume der Gewalt aber gibt es schon zu viele.

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