"Im Herzen der Gewalt" von Édouard Louis:Wie aus einer Vergewaltigung eine literarische Aufarbeitung wird

Edouard Louis

"Im Herzen der Gewalt": der französische Schriftsteller Édouard Louis.

(Foto: dpa)

In "Im Herzen der Gewalt" erzählt Édouard Louis von einer traumatischen Nacht. Ein Roman als totale Selbstentblößung.

Von Alex Rühle

Die Weihnachtsnacht 2013. Der junge Schriftsteller Édouard Louis kommt von einem Abendessen mit seinen Lebensfreunden Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie. Auf der Place de la République macht ihn ein junger Mann namens Reda an. Louis will zunächst allein nach Hause, aber Reda erregt ihn so sehr, dass er ihn irgendwann mit in seine Wohnung nimmt. Sie lieben sich, mehrmals, zwischendurch erzählen sie einander ihr Leben: Reda, der algerische Kabyle, der hier illegal am Rand der Stadt und der Gesellschaft lebt; Édouard, der aus der tiefsten französischen Provinz und von ganz unten kommt und jetzt im Zentrum von Paris lebt, im doppelten Sinne, schließlich ist soeben sein erster, autobiografischer Roman erschienen, "Das Ende von Eddy", der gerade deshalb so einschlug in Paris, weil hier Menschen gezeigt wurden, die sonst nie zu Wort kommen im französischen Literaturbetrieb, Abgehängte, Langzeitarbeitslose, reaktionäre Proleten, die selbst viel Gewalt erfahren haben und diese an ihre Kinder weitergeben.

All das erzählt Louis Reda in dieser Nacht natürlich nicht, aber er lässt ihn spüren, wie stolz er auf den eigenen sozialen Aufstieg in die sonst so hermetische Kulturaristokratie ist. Als Louis bemerkt, dass Reda ihm am Ende der Nacht sein Handy und das iPad stehlen will und er ihn deshalb zur Rede stellt, vergewaltigt ihn Reda und versucht ihn umzubringen.

Er berichtet die meiste Zeit über aus der Warte eines Unsichtbaren

Um diese eine Nacht kreist Édouard Louis' zweiter Roman. Man weiß von Anfang an, auf welche Gewaltszenen es hinausläuft, das Buch setzt ein, als Louis am Morgen danach frenetisch seine Wohnung putzt, er will alle Spuren, den Geruch, das Blut, den Schmerz eliminieren. Man fragt sich da noch, ob das wirklich sein muss, diese totale Selbstentblößung und literarische Aufarbeitung einer derart traumatischen Erfahrung. Aber wenn man nach fünf Stunden atemlos und beklommen wieder auftaucht aus diesem Buch, hat man einen unglaublich spannenden Text gelesen, in dem man auf die Katastrophe zusteuert wie auf einem glatten, abschüssigen Boden. Um einen spannenden Text zu lesen, reicht es freilich, einen gutgezimmerten Krimi zu kaufen. "Im Herzen der Gewalt" aber ist mehr, viel mehr: ein Buch über die Macht der Sprache. Über die Konstruktion von Wahrheiten. Über die unterirdischen Schockwellen einer traumatischen Erfahrung - aber Louis' Schwester Clara würde jetzt sicher sagen, das ist doch wieder nur kariertes Professorengerede.

Zu Clara kommen wir gleich, kurz nach der Vergewaltigung fährt Louis für einige Tage zu ihr, ausgerechnet, in sein Heimatdorf in der Picardie, aus dem er einst so unbedingt fliehen musste und in das er seither kaum je zurückkam. Durch diese übersprungshafte Heimkehr verbindet er schon geografisch die Erfahrung der Vergewaltigung mit seinem ersten Roman, fährt er doch ins Herz der anderen Gewalterfahrung zurück, der jahrelangen Misshandlungen, die er als zartes Außenseiterkind und junger Schwuler von Seiten seiner Eltern und Mitschüler erlebt hat.

Der Originaltitel "Histoire de la violence" rekurriert auf Foucault und dessen Versuch, mit Büchern wie der "Geschichte des Wahnsinns" oder der "Geschichte der Sexualität" Fragen nach Macht und Ausgrenzung zu umkreisen. Louis selbst betonte in Interviews mehrfach, dass die Klammer all seiner Texte die Frage nach der Gewalt sei: "Ich wollte aus der Gewalt einen literarischen Ort machen, so wie Marguerite Duras das mit der Leidenschaft gemacht hat oder Claude Simon mit dem Krieg. Es geht um die Gewalt, die meist unsichtbar ist. Genau darin besteht die Kraft der Literatur: Mit Worten das Unsichtbare zu zeigen."

Die verfälschende Nacherzählung als Leit- und Leidmotiv

Er selbst, und das ist der eigentliche erzählerische Clou dieses Buchs, schreibt die meiste Zeit über aus der Warte eines Unsichtbaren: Eines Abends, er steht im Haus seiner Schwester hinter einer Tür, bekommt er mit, wie Clara ihrem Mann die Geschichte der traumatischen Nacht in ihren eigenen Worten erzählt, schnoddrig, verzerrt, oft falsch und getränkt von Vorurteilen. Louis schiebt dann, kursiv abgesetzt, eigene Kommentare ein, meist korrigierend, wütend, hilflos, manchmal auch nur ergänzend, aber er bleibt dennoch für den Rest des Textes in seinem Versteck und lässt weiterhin sie das Ganze erzählen, etwa wie er Reda nach dem Diebstahl des iPhones verständnisvoll zuquatscht: "Sogar in der Situation kann er nicht aufhören mit seinem Feine-Leute-Gerede, wie ein Minister, kein Wunder, dass dieser Reda noch wütender wurde, und er sagt, wenn du willst, tun wir so, als wäre das nie passiert, das ist ganz unwichtig (das aus ihrem Mund zu hören, macht tatsächlich deutlich, wie lächerlich mein Verhalten war)."

Auch in "Eddy" gab es kursive Einschübe: Dort waren es die Sätze und Formulierungen seiner Eltern und Mitschüler, die Sprache der anderen, von früher, die der Erinnerungsstrom wie fremdes Treibgut aus der verhassten Vergangenheit ins eigene Sprechen spült. Jetzt sind seine eigenen, ergänzenden Einschübe kursiv, während er in erster Linie seine Schwester zu Wort kommen lässt, samt ihrer homo- und xenophoben Sarkasmen, wie kann man auch einen Kabylen mitnehmen. So sind die beiden Bücher fast wie Echokammern konstruiert, die Kindheitsprägung und der eigene Lebens- und Weltentwurf, das eigene und das fremde Sprechen gehen ineinander über und durchkreuzen einander.

"Ich erkannte meine eigenen Erinnerungen nicht wieder, als ich sie schilderte ..."

Das Thema der verfälschenden Nacherzählung ist eines der Leit- und Leidmotive dieses Buches: Seine Freunde de Lagasnerie und Eribon überreden Louis, Anzeige zu erstatten. So gerät er mit seiner Geschichte in die übliche Betreuungs- und Rechtsmaschinerie, und ob er nun im Krankenhaus, beim Therapeuten oder auf der Polizeistation von seinem Fall erzählt, immer hat er das Gefühl, dass ihm das Geschehen im Erzählen entgleitet und durch die Zuhörenden und die Art ihrer Fragestellungen gelenkt und verfälscht wird: "Ich erkannte meine eigenen Erinnerungen nicht wieder, als ich sie schilderte; die Fragen der beiden Beamten zwangen mich, die Nacht mit Reda anders darzustellen, als ich es gewollt hätte, ich wusste, wenn es mit dem Bericht so weitergehen würde, dann würde es wegen ihrer Fragen oder wegen der Richtung, die sie mir aufdrängten, unmöglich, noch einmal zurückspulen."

Noch unheimlicher ist freilich, dass er in sich selbst ihm bislang fremde Stimmen hört: Louis, der von sich schreibt, der Rassismus sei das gewesen, was er "immer als das meinem Wesen radikal Entgegengesetzte empfunden hatte, das absolut andere meiner selbst", merkt nun, wie "eine zweite Person in meinen Körper eingezogen ist": Alle dunkelhäutigen Männer machen ihm auf einmal rasende Angst, er senkt den Kopf, sobald sich ihm ein Schwarzer oder Araber nähert.

So wird ihm nicht nur seine Geschichte, sondern irgendwann auch noch er selbst sehr fremd. Auch in diesem Zusammenhang kann man "Das Ende von Eddy" und dieses Buch als Spiegeltexte über Leid und Schmerz lesen: "Eddy" begann mit dem Satz: "Das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt." "Im Herzen der Gewalt" endet mit einem Zitat von Imre Kertész: "Ich schreibe nicht, um Freude zu finden, sondern suche mit meinem Schreiben den Schmerz, den größtmöglichen, beinahe unerträglichen Schmerz, ja, das ist wahrscheinlich der Grund, denn der Schmerz ist die Wahrheit, auf die Frage jedoch, was die Wahrheit ist, gibt es eine sehr einfache Antwort. Wahrheit ist das, was verzehrt."

Man muss aufpassen, dass einem Lob nicht zu Pathosformeln gerinnt, aber Édouard Louis hat im Kertész'schen Sinne zwei sehr wahre Bücher geschrieben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: