Porträtserie "Sie sind das Volk":"Ich bin fast froh, dass ich aussortiert wurde"

Porträtserie "Sie sind das Volk": Michael Brinckmann hat das Asperger-Syndrom.

Michael Brinckmann hat das Asperger-Syndrom.

(Foto: SZ)

Michael Brinckmann hat das Asperger-Syndrom. Er war ein erfolgreicher Projektmanager, aber auch schwer depressiv und schließlich arbeitslos. In "Sie sind das Volk" erzählt er, was sich in Deutschland seiner Meinung nach ändern muss - nicht nur für Leute, die als "krank" gelten.

Von Hannah Beitzer, Köln

Als Kind stand Michael Brinckmann viele Stunden vor dem Badezimmerspiegel im Haus seiner Eltern im Schwarzwald und übte Normalsein. Dafür schaute er sich selbst fest in die Augen. "Ich hatte in der Schule gesehen, dass die anderen sich anschauen, wenn sie miteinander sprechen", erinnert er sich. "Für mich war das vollkommen abartig, aufdringlich, unangenehm. Aber auch ich wollte sein wie alle anderen." Michael Brinckmann aber war nicht wie alle anderen, ist es heute noch nicht. Der 49-Jährige hat das Asperger-Syndrom.

Das hat ihm einen ungewöhnlichen Lebenslauf beschert. Brinckmann hat einen weit überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, hat viele Jahre "Geld wie Heu" verdient, wie er heute sagt. Er litt aber auch unter schweren Depressionen, musste sogar eine Zeit lang in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie untergebracht werden. Seit seinem letzten großen Zusammenbruch vor neun Jahren ist er arbeitslos und wird im Alltag von einem Sozialarbeiter des ambulanten betreuten Wohnens begleitet.

50 Prozent aller schwer oder chronisch psychisch Kranken sind arbeitslos. Auch unter den Schwerbehinderten, zu denen der Asperger Brinckmann gehört, ist die Arbeitslosenquote doppelt so hoch wie unter den Menschen ohne Behinderung. Seine Geschichte ist ein gutes Beispiel dafür, wie schwer sich die Gesellschaft tut mit Menschen, die nicht der Norm entsprechen. Allen politischen Bekenntnissen zur "Inklusion" zum Trotz. Brinckmann hat viele Ideen, was sich ändern muss. Nicht nur für Leute wie ihn, sondern für alle. "Nicht der Aspie ist krank, sondern die Gesellschaft, in der er leben muss", sagt er.

Das Volk ist arm, ist reich, ist Ossi, ist Wessi, ist Mutter, Vater, Kind, ist lesbisch und schwul, ist ganz für sich und mit allen zusammen, ist alt, ist jung, wohnt im Altbau, im Hochhaus, im Reihenhaus und in der schönsten Natur. Sie alle sind das Volk - und Politik verändert Ihr Leben. Davon soll diese Reportageserie erzählen, jede Woche bis zur Bundestagswahl. Sie haben ein Thema, das Sie besonders beschäftigt? Schreiben Sie uns: dasvolk@sz.de.

"Der typische Aspie lacht nicht"

Brinckmann sitzt an einem Montagnachmittag in einem Kölner Brauhaus, trägt einen auffälligen schwarzen Hut, eine Brille, lächelt freundlich. Eigentlich ist das ein unmöglicher Ort für ihn. Es ist Montagnachmittag, nur wenige Menschen essen an den Tischen in dem hallenartigen Raum. "Doch für mich ist es hier fürchterlich laut. Als wäre ich bei hochgedrehten Dezibel und flackerndem Stroboskop-Licht in einer Disco eingesperrt." Brinckmann hat sich antrainiert, solche Situationen auszuhalten. Wer seine Geschichte nicht kennt, wird ihn auf den ersten Blick für einen ganz normalen Mann halten. Er lacht viel, macht Witze. "Ich habe einen ziemlich schrägen Humor." Zum Beispiel spricht er, wenn es um eine für ihn angenehme Umgebung geht, gern von "artgerechter Haltung".

Das ist ungewöhnlich, sagt sein Sozialarbeiter Mathias Mannack, den Brinckmann mitgebracht hat: "Der typische Aspie lacht eigentlich nicht." Aber klar, auch Menschen mit Asperger-Syndrom sind eben verschieden, so verschieden wie alle Menschen. Die beiden geben ein gutes Paar ab: Brinckmann, der in verschachtelten Sätzen spricht, mit vielen Fremdwörtern. Und Mannack, ein großer, breiter Mann mit Glatze und Brille, der oft in sich hinein grinst, wenn Brinckmanns Gedanken noch die x-te Abzweigung nehmen.

Als Kind und als Jugendlicher galt Brinckmann in seinem Heimatdorf als Sonderling. "Ich interessierte mich für römische Geschichte, suchte aus dem Brockhaus faszinierende Fremdwörter heraus. Und meine Klassenkameraden interessierten sich für Discos und spielten Flaschendrehen." Sogar die Mutter sagte zu ihm, dem stillen Kind, das sich stundenlang zu Hause im Schaukelstuhl vergrub und las: "Du gehst ja zum Lachen in den Keller." Was das Asperger-Syndrom ist, wusste damals auf dem Land keiner, ein Leben hatte sich in den üblichen Bahnen zu bewegen: Schule, Ausbildung oder Studium, Beruf, Rente.

Ein Sonderling wie Brinckmann musste sich anpassen und er passte sich an, spielte Flaschendrehen mit den anderen, machte Abitur. "Ich konnte viele meiner angeborenen Defizite durch meinen Intellekt ausgleichen", sagt er. Trotzdem ging es ihm schlecht, er hatte mehrere Zusammenbrüche, "Meltdowns" heißen sie im Fachjargon. Die ständige Anpassung an eine Umgebung, die er als unnatürlich empfand, strengte ihn an. Experten sprechen da von "Overload": "Viele Asperger laufen permanent auf 120 Prozent", sagt Brinckmann.

So schlich sich die Depression in sein Leben, unbemerkt, wie es bei vielen Menschen der Fall ist. "Ich war als Kind oft krank, hatte zum Beispiel einmal eine schwere Meningitis. Deswegen ist niemand auf die Idee gekommen, meine Zusammenbrüche könnten mit der Psyche zu tun haben." Erst vor drei Jahren fand er mit Hilfe seines Therapeuten heraus, dass er das Asperger-Syndrom hat.

Ein brillanter Banker - aber unbeliebter Kollege

Auch beruflich war es nie leicht für ihn. Brinckmann machte nach der Schule eine Lehre zum Bankkaufmann. "Man hat dort früh gemerkt, dass man mich zu mehr gebrauchen kann als zum Geldscheine zählen", sagt er. Er ist bis heute gut darin, in systemischen Zusammenhängen zu denken, außerdem sehr akribisch und genau, wie viele Asperger.

Er arbeitete in der Bilanzanalyse, im Meldewesen, "dieser heiligen Kuh des Bankertums", schließlich im Geldhandel. Doch er war unbeliebt, eckte mit seiner Weigerung, eine Tätigkeit einfach mal nach Schema F zu verrichten, überall an. "Immer wenn es um Entlassungen in einem Team ging, stand ich ganz oben auf der Liste."

Mit 23 Jahren sattelte er um, studierte Sinologie, lebte eine Zeitlang in China. Auch hier kam er aber mit den vielen Reizen seiner Umgebung kaum klar, brach zusammen, wusste immer noch nicht, warum er so anders war als alle anderen.

Trotz seines hohen IQs schrieb er Tausende Bewerbungen, erhielt fast nur Absagen. Schon sein ungewöhnlicher Lebenslauf wirkte auf viele Personaler bizarr. Spätestens im Vorstellungsgespräch war es dann vorbei für ihn. "Denn da geht es nicht um Fachwissen. Es ist eine Nasenwahl, der Personaler muss sie toll finden", sagt er. Bei einigen Unternehmen hatte er sogar das Gefühl: "Die laden mich nur ein, um mal einen richtig schrägen Vogel zu sehen. Das war sehr verletzend für mich."

Wie Michael Brinckmann seine Depression besiegte

Mit 27 Jahren machte er dann eine Begegnung, die sein Leben veränderte: "Ich lief an meinen Mann heran", sagt er. Erst jetzt, wo andere ihre ersten sexuellen Erfahrungen längst hinter sich haben, merkte Brinckmann, dass er schwul war. "Es war eine Sprungbrett-Beziehung, von der ich nie den Absprung geschafft habe", sagt er. Er liebt solche Sprachbilder, jeder Satz von ihm enthält mehrere. "Mein Mann hat mich am Patschehändchen genommen und mich durchs Leben geführt."

Brinckmann begann eine Therapie wegen seiner Depressionen. Er wurde außerdem beruflich erfolgreicher. "Ich habe um die Jahrtausendwende als Projektmanager IT-Systeme auf der ganzen Welt umgesetzt", sagt er. Er hatte einen Chef, der es akzeptierte, dass er anders war. "Für ihn war es in Ordnung, dass ich manchmal den ganzen Tag auf dem Schreibtisch lag und an die Decke starrte", sagt er. "Da hieß es nur: Ah, der Brinckmann denkt!"

Vor neun Jahren kam der nächste Schicksalsschlag. Michael Brinckmanns Mann starb sehr plötzlich. Er verlor seinen Job, versank so tief in die Depression, dass er beinahe vor gefülltem Kühlschrank verhungerte. "Ich konnte mich nicht mehr aufraffen, mir etwas zu essen zu holen." Schließlich kam er in die geschlossene Psychiatrie. Dort lernte er Mathias Mannack und das betreute Wohnen kennen. Seitdem ist es Mannack, der Brinckmann "ans Patschehändchen nimmt", wenn er mit der Welt nicht klarkommt. "Viel zu wenige Leute wissen über Angebote wie das betreute Wohnen Bescheid", findet er. Die Kliniken, die Arbeitsagentur, die Schuldnerberatung - sie alle informieren seinem Eindruck nach nicht aktiv darüber, weil die Betreuung zu teuer sei, zu aufwendig. Es gebe auch viel zu wenige Anbieter. "Ich hatte Glück."

Erst vor drei Jahren erhielt er die richtige Diagnose

Brinckmann fand außerdem gute Therapeuten. Und vor drei Jahren wurde er endlich als Asperger-Autist diagnostiziert. "Seitdem war es mit meiner Depression schlagartig vorbei", sagt er. Er bezeichnet sich deswegen selbst nicht mehr als krank. "Depression ist eine Krankheit, aber die habe ich überwunden. Der Aspie aber hat einfach nur ein anderes Betriebssystem." Er hat inzwischen auch wieder eine Beziehung und sagt: "Ich liebe es, Aspie zu sein." Er interessiere sich für so viele Dinge, habe so viele Einfälle im Kopf: "Das ist kein ständiges Jammertal, sondern ein sehr spannendes, anregendes Leben. Es ist auch oft sehr lustig."

Er verweist auf die Serie "The Big Bang Theory", in der Dr. Sheldon Cooper mit seinen typischen Asperger-Eigenschaften seine Freunde zwar manchmal in den Wahnsinn treibt, aber der unangefochtene Star der Serie ist. Auch wenn der offiziell gar kein Asperger-Syndrom haben soll. Er findet sich auch im Star-Trek-Helden Mister Spock wieder, jenem Halb-Vulkanier, der mit seiner auf Logik und Vernunft bedachten Handlungsweise allzu oft den Kopf schüttelt über die gefühlsgetriebenen Menschen. Leider sei in der echten Welt wenig Platz für Sheldon Coopers oder Mister Spocks. "Die Gesellschaft ist seit den 70er Jahren immer stromlinienförmiger geworden", findet er. "Die Medien transportieren ein Hochglanzbild des erfolgreichen heterosexuellen Familienvaters, der mit Hipsterbart auf dem Giebel des Einfamilienhauses herumturnt und beruflich wahnsinnig erfolgreich ist", sagt er.

Wartezeit auf einen Therapieplatz: bis zu neun Monate

Die Realität sehe aber anders aus. "40 Prozent aller Ehen werden geschieden, Kinderkriegen ist ein Armutsrisiko." Schätzungen zufolge leidet etwa jeder fünfte Deutsche mindestens einmal im Leben an einer Depression. "Etwa 10 000 Menschen nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben. Das sind mehr Menschen als jährlich bei Autounfällen sterben. Trotzdem wird über sie kaum gesprochen." Depression gelte immer noch als Tabuthema, das beklagen auch die zuständigen Hilfsstellen und Verbände. Oft erkennt sie weder das Umfeld eines Kranken, noch gesteht er sich die Depression selber ein.

Was wären die Lösungen? "Ich würde da zum Beispiel die Arbeitsagenturen in der Pflicht sehen", sagt Brinckmann. Viele schwer oder chronisch Depressive sind arbeitslos, sitzen also irgendwann vor einem Vermittler im Jobcenter. "Aber die haben so viele Fälle, dass sie gar keine Zeit haben zu fragen: Was steckt hinter der Arbeitslosigkeit?" Sind psychisch Kranke dann doch irgendwann so weit, ihre Krankheit zu erkennen, müssen sie monatelang auf einen Therapieplatz warten. In Köln dauere das bis zu einem Dreivierteljahr, erzählt Sozialarbeiter Mannack.

Ein Arbeitsethos, der krank macht

Auch in der Arbeitswelt werde das Thema nicht genug beachtet, findet Michael Brinckmann. "Da heißt die Depression seit neuestem Burn-out und ist fast schick." Denn Burn-out bedeute ja, dass sich jemand richtig reingehängt habe. Für Brinckmann deutet das auf ein krankes Arbeitsethos hin.

"Den Menschen wird vermittelt, dass Arbeit das einzig Glückseligmachende ist", sagt er. "Dabei werden Studien zufolge in den nächsten Jahren dank Digital Industry 4.0 bis zu 59 Prozent aller Jobs verloren gehen." Im Supermarkt bei ihm um die Ecke zum Beispiel wurden jetzt Kassen eingeführt, an denen der Kunde selbst die Ware scannt und bezahlt, Kassiererinnen sind nur noch zur Hilfestellung da. "Ich sage dann immer: Merken Sie nicht, dass Sie sich selbst abschaffen? Aber sie zucken mit den Schultern."

Brinckmann sieht eigentlich Politiker in der Pflicht, eine neue Vision für die Zukunft zu entwerfen, eine, in der das Leben nicht mehr eingeteilt ist in "Lernen, Arbeiten, Rente". "Aber von den großen Parteien traut sich da keine ran." Zu sagen: Eure Arbeitsplätze wird es vielleicht bald nicht mehr geben. Oder: Eure Rente ist doch nicht sicher. Und am besten sogar: Arbeit ist nicht das ganze Leben, es gibt noch so viel mehr als Geldverdienen. Denn das ist die Lehre, die er aus seinem Leben gezogen hat. Er findet die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens faszinierend, kann sich stundenlang in geldtheoretischen Ausführungen verlieren.

"Ich bin fast froh, dass ich aussortiert wurde", sagt er. Ein ziemlich provokanter Satz, der im Eifer des Gefechts fällt. Aber Brinckmann erklärt ihn: Er führe nun ein glückliches, kreatives Leben abseits der Hochleistungsgesellschaft, die er so sehr ablehnt. "Endlich habe ich Zeit für die Dinge, die mir wirklich wichtig sind." Er schreibt jetzt zum Beispiel Bücher. Außerdem hilft er Menschen, denen es so schlecht ging, wie ihm vor einigen Jahren. Die unter Depressionen leiden, ihren Job verloren, tief in den Schulden stecken, ein Alkoholproblem oder Drogenproblem haben. Er kocht außerdem viel, Zehn-Gänge-Menüs, die er sich trotz seiner Arbeitslosigkeit leisten kann, weil er so sparsam lebt.

"Warum soll das, was ich jetzt mache, weniger wert sein als meine frühere Tätigkeit als Projektmanager?" Damals habe er doch nur Sekretärinnen unglücklich gemacht, die plötzlich mit neuen Computern klarkommen musste. Die Arbeitslosigkeit und alle mit ihr verbundenen Ängste, die so viele Menschen in Deutschland krank machen - Michael Brinckmann haben sie nicht krank gemacht. Im Gegenteil. Erst seit Kurzem fühlt er sich gesund. Und das nicht trotz, sondern wegen seines anderen Betriebssystems, das er um keinen Preis eintauschen möchte gegen eines, das die Gesellschaft als "normal" empfindet.

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