Sterbender in Bankfiliale in Essen:"Ich habe noch nichts Vergleichbares erlebt"

Sterbenden Rentner in Bank ignoriert - Prozessbeginn

Das Polizeifoto aus Essen wurde 2016 zum Symbolbild für eine gefühlskalte Gesellschaft.

(Foto: dpa)

Drei Menschen stehen in Essen vor Gericht, weil sie in einer Bankfiliale über einen Sterbenden hinwegstiegen. Ihre Tat wurde zum Symbol für eine gefühlskalte Gesellschaft.

Von Christian Wernicke, Essen, und Thomas Hummel

Arnulf Breiderhoff ist noch immer erschüttert. So als wäre das, was an diesem Ort passiert ist, nicht vor knapp einem Jahr geschehen. Sondern heute. "Hier ungefähr muss der alte Mann gelegen haben", sagt der 67-jährige Essener und zeigt auf die hellen Fliesen im Vorraum der Bankfiliale, wo die Deutsche Bank fünf Automaten aufgestellt hat. Der Mann fährt sich mit der Hand durch die grauen Haare, er schüttelt den Kopf: "Einem hilflosen Menschen, der am Boden liegt, nicht zu helfen - das geht einfach nicht."

Breiderhoff kennt die Filiale. Weil er dem Internet nicht traut, erledigt er all seine Bankgeschäfte hier in der Deutsche-Bank-Dependance an der Marktstraße von Essen-Borbeck. "Meist komme ich sonntags, wenn's ruhig ist", sagt er, "oder an Feiertagen." Auch vor 50 Wochen war er hier. Am Tag der Deutschen Einheit 2016 hat er am späten Vormittag seine Überweisungen in den Computer getippt. "Klar hätte ich dem armen Mann beigestanden", beteuert Breiderhoff. Doch der kam erst Stunden später.

Am Nachmittag des 3. Oktober betritt ein 83-jähriger Mann die Bankfiliale. An diesem Tag der Deutschen Einheit sind keine Angestellten im Haus, der Mann will an einem Terminal Geld überweisen. Dabei stürzt er und schlägt mit dem Kopf auf dem Fliesenboden auf. Er versucht, sich noch einmal aufzurappeln, stürzt wieder. Beim erneuten Versuch, auf die Beine zu kommen, verliert er zum dritten Mal das Gleichgewicht und bleibt bewusstlos mitten im Vorraum der Bank liegen.

Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung

Das alles nimmt eine Überwachungskamera auf, ebenso die Szenen danach: Vier Menschen betreten in den folgenden Minuten die Bank, steigen zum Teil über den Rentner hinweg, erledigen ihre Bankgeschäfte und verlassen die Filiale wieder, ohne sich um den Mann zu kümmern. Erst der fünfte Kunde ruft den Notarzt, der 20 Minuten nach dem Zusammenbruch des Mannes in der Bank eintrifft. Eine Woche später stirbt der Rentner im Krankenhaus an den Folgen einer Schädel-Hirn-Verletzung.

Drei der vier, die den Rentner missachteten, müssen sich jetzt, ein Jahr später, vor Gericht verantworten. Der Vorwurf lautet: unterlassene Hilfeleistung.

"Ich habe noch nichts Vergleichbares erlebt", sagt Birgit Jürgens, immerhin seit 1991 bei der Staatsanwaltschaft. Birgit Jürgens kümmert sich eigentlich um Mord und Totschlag. Die Oberstaatsanwältin leitet in Essen die Abteilung für Kapitalverbrechen; wenn in der Stadt oder im Umkreis ein Mensch gewaltsam zu Tode kommt, ist sie gefragt. Unterlassene Hilfeleistung ist eigentlich nicht ihre Kategorie. In diesen Fällen kommt es häufig nicht zu einem Gerichtsverfahren, weil sich Ankläger und Verteidiger auf eine Geldbuße einigen.

Die vier Kunden, die dem Rentner nicht halfen, konnten mithilfe von Überwachungskameras und Bankdaten identifiziert werden. Es sind drei Männer und eine Frau im Alter von 39 bis 62 Jahren aus Essen und Oberhausen. Drei von ihnen stehen am Montag in Essen vor Gericht, ein Verfahren wurde abgetrennt, weil der Gesundheitszustand des Angeklagten geprüft werden muss.

Ein Obdachloser? Staatsanwaltschaft vermutet Schutzbehauptung

Zwei Angeklagte sagten bislang aus, dass sie den Rentner für einen Obdachlosen gehalten hatten - tatsächlich hatten damals häufiger Obdachlose dort geschlafen. Allerdings lag der Mann in der Mitte des Raumes, war ordentlich gekleidet und hatte keine Habseligkeiten wie Plastiktüten, einen Schlafsack oder Ähnliches dabei. Deshalb hält Staatsanwältin Jürgens die Aussagen für Schutzbehauptungen. Bei einer Verurteilung droht den Angeklagten eine Geldbuße und bis zu einem Jahr Haft.

Das Ergebnis der Obduktion, wonach der Rentner auch gestorben wäre, wenn der Arzt früher eingetroffen wäre, dürfte sich kaum strafmindernd auf das Urteil auswirken. Nach dem Strafgesetzbuch liegt unterlassene Hilfeleistung dann vor, wenn jemand "bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten" gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft ist der Meinung, dass man Passanten nicht unbedingt Erste-Hilfe-Maßnahmen oder eine Herzmassage abverlangen kann, aber wenigstens der Ruf nach einem Krankenwagen wäre in der Situation in Essens Bankfiliale zwingend erforderlich gewesen.

Nach dem Vorfall in Essen war ein Aufschrei durch das Land gegangen. Deutschland debattierte, ob dieser Fall ein Symbol für eine kalte, verrohte Gesellschaft sei, in der sich niemand mehr um den Nächsten kümmere. Selbst dann nicht, wenn dieser augenscheinlich ein ernstes Problem hat. Essens Bischof Franz-Josef Overbeck erklärte damals, ihm gehe dieser tragische Fall sehr nahe. Er "glaube ganz fest, dass ohne echte Barmherzigkeit keine Gesellschaft letztlich existieren kann".

Mehrere Fernseh-Talkshows beschäftigten sich mit dem Geschehen in Essen. Die Reaktionen waren zwiespältig. Einerseits offenbarte sich die Angst, das Schicksal des Rentners könne jeden treffen angesichts der Anonymität und Gleichgültigkeit der Bevölkerung vor allem in den Städten. Andererseits hieß es, man solle die vier Menschen nicht voreilig attackieren, in der Bevölkerung gebe es generell eine Hemmschwelle, anderen zu helfen.

Gerd Bohner, Professor für Sozialpsychologie, sagte in einem SZ-Interview, das Verhalten der Leute sei häufig keine Charakterschwäche, sondern durch den sozialen Kontext der Situation erklärbar. So gebe es den sogenannten "Zuschauereffekt", wonach Menschen nicht eingreifen in dem Glauben, es werde schon ein anderer, mit vielleicht auch mehr Kompetenz dem Verletzten beistehen. Auch sei es in einer Großstadt viel anonymer als im ländlichen Raum, weshalb dort die Hilfsbereitschaft im Notfall größer sei.

Draußen tun, was drinnen gebetet wird

Der 3. Oktober 2016 hat ein paar Dinge verändert in Borbeck. Man hat geredet über den Fall, selbstverständlich. Überall, zum Beispiel direkt gegenüber der Bankfiliale, zu Füßen der steinernen Germania. Das Denkmal, das an den Krieg von 1870/71 erinnert, blickt streng über den Platz hinweg. Oder drüben am Kiosk, wo sich zwei junge Männer mit schwarz-gelbem BVB-Schal am sonnigen Vormittag das erste Pils geben: "Ja, schrecklicher Fall!" Oder in der katholischen Gemeinde Sankt Dionysius, wo der Pfarrer den Fall in seiner Predigt aufgriff und, so erzählt eine Mitarbeiterin, "wir in vielen Fürbitten gesagt haben: 'Wir müssen, was wir hier drinnen beten, auch draußen praktizieren.'" Nächstenliebe zum Beispiel.

Am Unglücksort ist heute manches anders. Neben dem Telefon, mit dem man bei Beschwerden einen Bankangestellten anrufen kann, klebt nun ein Schild. "Notfall?", fragt der Aushang. Dann möge man doch zum Hörer greifen: "Bitte reagieren Sie, denn nur dann kann auch geholfen werden!"

Eine weitere Veränderung nimmt nur wahr, wer hier schon früher verkehrte. "Die Obdachlosen sind weg", bezeugt Arnulf Breiderhoff. Früher habe hinten rechts im Bankraum oft ein Mann geschlafen, der häufig betrunken und manchmal "sehr laut und auch aggressiv" geworden sei. Gerade Frauen habe der Kerl bestimmt etwas Angst gemacht. Die Obdachlosen kämen nicht mehr, obwohl die Bankfiliale weit und breit der einzige beheizte Geschäftsraum ist, in den man ohne Schlüssel, Code oder EC-Karte gelangt. Einfach Tür drücken - drin. Bis heute.

Angesetzt ist bislang ein Verhandlungstag, das Urteil wird bereits am Montag erwartet.

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