Abgehängte Bevölkerungsgruppen:"AfD-Wähler sind nicht wirtschaftlich, sondern kulturell abgehängt"

Prof. Dr. Holger Lengfeld,  Universität Leipzig Institut für Soziologie; Holger Lengfeld, Soziologe

Wer fühlt sich im Stich gelassen und wer ist daran schuld? Soziologie-Professor Holger Lengfeld von der Uni Leipzig untersucht soziale Ungleichheit.

(Foto: Swen Reichhold)

Wer ist denn nun der "kleine Mann", der angeblich die Wahl entscheidet? Soziologe Holger Lengfeld hat die AfD-Anhängerschaft erforscht. Ein Gespräch auch über Vorwürfe an die "Lügenpresse".

Interview von Ruth Schneeberger

Holger Lengfeld, 47, ist Professor für Soziologie an der Uni Leipzig. Er forscht unter anderem zu sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften und hat sich für die Bundestagswahl die Anhängerschaft der AfD genau angeschaut.

SZ: Im aktuellen Wahlkampf ist ständig vom "kleinen Mann" die Rede, auf den zu wenig geachtet werde. Wer ist für Sie der kleine Mann?

Holger Lengfeld: Meistens wird der Begriff, den die Wissenschaft nicht benutzt, als Selbstbeschreibung verwendet von Leuten, die wenig Einfluss haben. Sie stehen nicht auf der Sonnenseite des Lebens und formulieren daraus Ansprüche an Gesellschaft und Politik. Das sind meist Menschen mit geringem sozialen Status, einfacher Schulausbildung, geringer beruflicher Qualifikation und unterdurchschnittlichem Einkommen. Mein Eindruck ist aber, dass viele Menschen, die sich selbst als "kleinen Mann" bezeichnen, nicht in diese Kategorie gehören - sie machen sich kleiner, als sie sind.

Und wer sind für Sie die abgehängten Bevölkerungsschichten, von denen ebenfalls die Rede ist?

Als Wissenschaftler würde ich vom Abgehängtsein auch nicht reden. Wenn einer abgehängt wird, dann ist das ein aktiver Vorgang und in der Regel meinen wir dann, dafür ist jemand konkret verantwortlich: Einige werden von der wirtschaftlichen Entwicklung entkoppelt. Aber es ist extrem unklar, inwieweit Menschen für ihre Lage selbst verantwortlich sind und inwieweit Institutionen - meist ist es eine Mischung aus beidem.

Wie würden Sie dann die Unzufriedenheit erklären, die offenbar in großen Teilen der Bevölkerung in letzter Zeit vorherrscht?

Ich bevorzuge den Begriff des Modernisierungsverlierers. Es gibt Gewinner und Verlierer bei der Weiterentwicklung einer Gesellschaft. In unserem Land sind die beruflichen Anforderungen in den letzten 25 Jahren stark gestiegen. Lebenslange Arbeitsverträge gehören der Vergangenheit an, Beschäftigte müssen sich mehr qualifizieren, um die gleichen Lebenschancen zu haben wie die Vorgängergeneration. Manche halten dabei nicht Schritt, meist aufgrund ungleicher Startvoraussetzungen im Elternhaus, im Bildungsniveau, wegen geringer intellektueller Fähigkeiten, manchmal aufgrund von Diskriminierungen - oder auch, weil sie es als Zumutung empfinden und zu steigenden Anstrengungen nicht bereit sind. Die Folge ist: Die Löhne und Gehälter sind seit der Wiedervereinigung ungleicher geworden. Manche haben nur wenig hinzugewonnen. Das sind die Modernisierungsverlierer. In Wahlkampfzeiten liegt es nahe, dass die ihren Unmut äußern wollen.

Der Begriff "kleiner Mann" wird aber auch von Politikern im Wahlkampf sehr gerne verwendet. Teilweise werfen sich die Parteien gegenseitig vor, ihn nicht genügend zu beachten.

Im Wahlkampf wirft man einander immer viel vor. Wir haben seit 2006 eine positive wirtschaftliche Entwicklung, die Arbeitslosigkeit ist stark gesunken.

Auf Kosten von Vollzeitstellen und zugunsten von Teilzeit und Leiharbeit.

Das ist nicht ganz richtig. Es stimmt zwar, dass der Anteil dieser sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse, darunter auch befristete Verträge, an allen sozialversicherungspflichtigen Stellen von den 1990er Jahren bis Mitte der 2000er Jahre stetig zugenommen hat, auf bis zu 35 Prozent. Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen aber, dass ihr Anteil im Aufschwung wieder leicht zurückging, auf 30 Prozent im Jahr 2015 - ein kleiner Trend zum Positiven also. Außerdem fühlen sich die Leute auch wirtschaftlich sicherer als noch vor vier Jahren.

Das sind immerhin ein Drittel der Arbeitnehmer.

Unsere Forschung zeigt, dass sich heute so wenige Menschen vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes fürchten wie seit 25 Jahren nicht mehr. Auch die kleinen Leute haben seit 2010 zunehmend vom Wohlstand partizipiert. Denn Arbeitslosigkeit ist ja sozial ungleich: Sie erwischt Leute mit geringer Qualifikation stärker als die mit hoher. Wenn Krise ist, dann wird in einem Betrieb zuerst die Produktion zurückgefahren. Leute mit theoretischem Know-how aber wird der Betrieb halten, die braucht man auch in Krisenzeiten, und die sind danach schwerer auf dem Arbeitsmarkt zu finden. In Zeiten sinkender Arbeitslosigkeit gehören daher auch die kleinen Leute zu den Gewinnern. Deshalb finde ich wechselseitige Vorwürfe, man würde sich nicht um die kleinen Leute kümmern, unglaubwürdig.

Es heißt, die Unzufriedenen würden sich jetzt bei der AfD tummeln.

Die Frage ist, warum die Leute unzufrieden sind. Meine Studien zeigen, dass die AfD keine Partei der wirtschaftlich Unzufriedenen ist. Sie wurde 2013 von einer Gruppe hochbürgerlicher Menschen als Reaktion auf die Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung gegründet. Von antiislamischen Einstellungen oder Flüchtlingsressentiments war da noch überhaupt keine Rede. Das hat sich geändert, als 2015 die Zahl der Flüchtlinge übers Mittelmeer drastisch zunahm und Frau Merkel fast im Alleingang das humanitäre Aufnahmesignal gegeben hat. Das hat in der AfD dazu geführt, dass Personen mit rechtsnationalem Menschenbild das Ruder übernommen haben. Seit Bernd Lucke und viele seiner wirtschaftsliberalen Mitstreiter nicht mehr da sind, hat die Partei im Kern nur ein Thema: die Schließung des Landes vor Flüchtlingen - und mehr nationale Autonomie. Das zieht Menschen an, die Merkels Flüchtlingspolitik von Grund auf ablehnen.

"Unser Mediensystem weist Besonderheiten auf"

Und das spricht Ihrer Meinung nach nicht nur sogenannte Abgehängte an.

Unsere Studien zeigen: AfD-Wähler kommen aus allen sozialen Schichten. Die untere Schicht fällt dabei nicht sehr stark ins Gewicht. Stattdessen wird die AfD von Menschen unterstützt, die ein bestimmtes gesellschaftliches Ideal ablehnen, das wir in der Forschung kosmopolitisch nennen: Dass Menschen in einer Welt ohne Grenzen leben, dass wir bei Bedürftigkeit helfen, egal wo, dass wir unterschiedliche Lebensentwürfe anerkennen - all das lehnen die Anhänger der AfD ab. Und wünschen sich stattdessen einen Nationalstaat als Schutz vor äußerer Bedrohung, mehr kulturelle Homogenität, mehr traditionelle Lebensformen - und keinen Islam, der dazugehört. Und es scheinen doch ziemlich viele zu sein. Zwölf Prozent der möglichen Stimmen erreichte die AfD beim letzten ARD-Deutschlandtrend.

Es geht den AfD-Anhängern weniger um wirtschaftliche Fragen als um kulturelle?

Ja, denn diese Menschen fühlen sich als Modernisierungsverlierer, sind es aber nicht im wirtschaftlichen Sinne. Für die entwickelt sich die Welt insgesamt in die völlig falsche Richtung. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Für die Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Lebensweisen ist in ihrem Weltbild kein Platz. Diese Entwicklung hat die Gesellschaft in den letzten 20 Jahren aber genommen: weniger Diskriminierung, mehr Pluralität, bis zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen. Das ist für diese Menschen absurd - und die AfD steht wie ein Leuchtturm dagegen. Ihre Unterstützer sind also nicht wirtschaftlich, sondern kulturell abgehängt von einer für sie falschen Entwicklung. Sie wollen eine andere Form der Gesellschaft.

Wahlkampf AfD  mit dem Spitzenkandidaten  Gauland

"Nicht wirtschaftlich, sondern kulturell abgehängt": Holger Lengfeld hat die AfD-Anhängerschaft (im Bild eine Demo in Cottbus vom 19. September) und deren Motive genauer erforscht.

(Foto: dpa)

Sie sagen also, im Grunde wurde niemand im Stich gelassen?

Wirtschaftlich gibt es viele Menschen, die in den letzten Jahren weniger hinzugewonnen haben als andere, das ist eindeutig. Und es gibt immer gesellschaftliche Gruppen, die ihre Unzufriedenheit deklarieren. Vor diesem Wahlkampf haben wir aber keine klar umrissenen Gruppen, die wirtschaftlich eindeutig im Stich gelassen worden sind. Es geht eher darum: Wie wollen wir leben, wie sieht die Gesellschaft als Ganzes aus? Wenn man sich bei Wahlkampfauftritten in Ostdeutschland diese Wut anschaut, die Politikern dort entgegenschlägt, dann lässt sich das eher mit dem Gefühl dieser Leute erklären, dass die Regierung sie verraten hat. Weil sie eine falsche kulturelle Entwicklung der Gesellschaft betreibt. Das sind zwar tatsächlich Menschen, die im unteren und mittleren Bereich auch objektiv nicht zu den Gewinnern der Globalisierung zählen, aber auch nicht stark verloren haben. Ihre Wut speist sich aus der kulturellen Enttäuschung.

Und wer kulturell enttäuscht ist, sieht sich auch von Lügenpresse umgeben?

Der Vorwurf der Lügenpresse ist schön plakativ, aber im Wesentlichen falsch. Lügen im Sinne von bewusst die Unwahrheit verbreiten findet ja nicht statt. Das ist im Kern aber wohl auch nicht gemeint, sondern dass das Mediensystem die Sicht der kulturell Unzufriedenen auf die Dinge nicht repräsentiert.

Und stimmt das?

Aus der Forschung weiß man, dass unser Mediensystem in der Tat eine Besonderheit aufweist, die sehr viel mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Deutsche Journalisten haben viel stärker als in anderen Ländern die Vorstellung, einen aktiven Beitrag zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung leisten zu wollen. Dazu gehört auch, das Publikum zu erziehen. Also nicht nur die Wiedergabe dessen, was ist, sondern auch der Versuch, die Menschen davon zu überzeugen, dass bestimmte Entwicklungen sinnvoll und richtig sind und andere nicht. Nun sind Medienleute in Deutschland laut Umfragen im Schnitt etwas linksliberaler als in anderen Ländern. Daher gibt es kaum wertkonservative Medienformate wie es sie in den 70ern in der BRD gab, wo politischer Streit viel stärker aufeinanderprallte. Das vermissen diese Menschen, die solche Vorwürfe äußern. Sie finden in den Medien ihre Wertevorstellungen nicht wieder.

Das ist derselbe Vorwurf wie der an das politische System.

Genau, dabei gibt es aber keinerlei Anlass zu Verschwörungstheorien. Es gibt keine Gruppe, die die Strippen zieht, sondern alles ist das Ergebnis eines langsamen gesellschaftlichen Wandels. Aber offenbar kommt es dazu, dass ein Teil der Gesellschaft da nicht mitkommt. Und der kann sich nun artikulieren, über Plattformen wie Pegida oder AfD. Das war lange Zeit nicht möglich. Schon vor sechs, sieben Jahren hatten die Menschen dieselben Einstellungen, aber keinen Ort, um sich zu äußern. Wir nennen das die Umkehrung der Schweigespirale: Sobald die anderen schweigen, schweige ich auch, aber wenn sich andere äußern, die dieselbe Meinung vertreten, werde ich auch ermuntert, zu sprechen. Da setzt sich eine starke Dynamik in Gang, ein Bedürfnis nach Artikulation, den Unmut zu äußern. Die Flüchtlingskrise im Mittelmeer hat Pegida und das Erstarken der AfD ausgelöst.

Das heißt, die Flüchtlingskrise war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat?

Ich denke schon. Der Unmut schwelte schon länger. Damit Menschen, die das Gefühl haben, nicht gehört zu werden, sich äußern, braucht es externe Geschehnisse, die auf einmal passieren. Die Flüchtlingskrise hat nur zu einem geringen Teil die Unzufriedenheit der Menschen verstärkt. Aber jetzt haben sie einen legitimen Ort, um sie zu äußern. Die ersten Pegida-Demos waren Bürgerdemonstrationen, kein Hort der Rechtsextremen. Viele Forscherteams sind da reingegangen, und haben gesehen, dass die gesellschaftliche Mitte mitlief.

Wie sieht das historisch aus? Wurde der "kleine Mann" oder auch einfach der unzufriedene Bürger in früheren Jahrzehnten weniger übersehen? Gibt es da einen Wandel?

Man darf die Steuerungsfähigkeit der Politik nicht überschätzen. Das Kleine oder Große am Mann oder der Frau wird im Bereich der Wirtschaft entschieden. Die Politik kann nur an den Verteilungsverhältnissen etwas ändern. In Westdeutschland wurde mit dem Wirtschaftswunder seit Mitte der 50er Jahre immer spezifischer versucht, unterschiedlichste Lebenslagen materiell zu unterstützen. Deshalb kann ich nicht erkennen, dass der kleine Mann früher mehr Beachtung bekommen hat als heute. Was sich geändert hat, sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die die Politik kaum beeinflussen kann. Wenn etwas woanders deutlich billiger hergestellt wird, endet die Steuerungsfähigkeit.

Was würden Sie also der Politik raten: Was ist jetzt zu tun?

Das ist die Königsfrage. Auf große gesellschaftliche Fragen gibt es keine klaren Antworten. Das Schwierige ist, dass man die Wahrnehmungswelt der Modernisierungsverlierer nicht mehr erreicht, die ist verschlossen. Diese Menschen leben in ihrer eigenen Welt. Sie haben ein Gefühl der massiven Benachteiligung, obwohl sie wirtschaftlich gar nicht so schlecht dastehen. Das hört man immer wieder: Die Flüchtlinge bekommen alles und bei uns wird der Lebensmittelladen geschlossen und alles wird immer schlimmer. Dass etwa die Kleinstädte sterben oder die Kitas im Osten geschlossen werden, ist nicht Folge der Flüchtlingspolitik, sondern des gesellschaftlichen Wandels. Aber Sie erreichen diese Leute mit schlichter Aufklärung nicht. Dennoch muss man mit Überzeugungsarbeit wider den Populismus arbeiten - dabei aber selbst nicht in Populismus verfallen, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Man darf nicht versuchen, diese Leute mit unwahren Simplifizierungen zu erreichen. Leider passiert das aber im Wahlkampf.

Und was würden Sie den Medien raten, um wieder an Glaubwürdigkeit zu gewinnen?

Überlegen Sie, inwiefern Ihre Berichterstattung beeinflusst ist durch das, was Sie politisch und gesellschaftlich selbst denken. Dann ist die Chance größer, dass Berichterstattung unparteiischer ausfällt. Bringen Sie mehrere Perspektiven, auch von Menschen, die ganz andere Wertevorstellungen haben. Gar nicht so lange nach der Flüchtlingskrise, schon im Herbst 2015, kam es bei Journalisten zu Selbstreflektionen. Damals waren die Medienberichte voll von der Hilfsbereitschaft der Deutschen, und dann hat man durch das Erstarken der AfD bei den Landtagswahlen plötzlich bemerkt, dass man ein Phänomen übersehen hat. Viele Medienschaffende waren als Bürger sehr stark mit der Hilfsbereitschaft einverstanden und wollten darüber berichten. Wenn man die Ressentiments übersieht und da nicht mehr hinguckt, kommt es zu Problemen.

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