Terroranschlag in Berlin:Der Bericht zum Fall Amri ist eine Chronik des Versagens

Die Ermittlungspannen in den Monaten vor dem Anschlag in Berlin muten bizarr an. Die Verantwortlichen müssen aus ihren Fehlern lernen.

Kommentar von Jens Schneider, Berlin

Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche im Dezember war fürchterlich. Er schockierte in seiner Brutalität nicht nur die Berliner, aber niemand kann behaupten, dass er aus heiterem Himmel kam.

Lange vorher schon hatte man gefürchtet, dass etwas passieren könnte. Es hieß, die Behörden seien in Alarmbereitschaft, sie würden mögliche Gefährder mit hoher Aufmerksamkeit verfolgen. Sie wüssten, dass nach den Anschlägen in Paris und Brüssel auch Menschen in einer deutschen Stadt einem islamistischen Anschlag zum Opfer fallen könnten. Die Hauptstadt Berlin galt als besonders gefährdet.

Angesichts dieser Situation ist heute schwer zu begreifen, dass es im Umgang mit Anis Amri zu der Reihe von Versäumnissen gekommen ist, die der Sonderbeauftragte Bruno Jost sorgfältig recherchiert und in seinem Abschlussbericht aufgelistet hat.

Er war im Blickfeld, mehr als auffällig

Amri war keiner, dem man leicht übersehen konnte, weil er sich etwa wie ein Schläfer im Verborgenen gehalten hätte. Im Gegenteil, er war im Blickfeld, mehr als auffällig. Dass er dennoch immer wieder unter dem Radar der Ermittler durchrutschte, ist Ausdruck eines Behördenversagens, das Jost detailliert offen gelegt hat.

Jost ist als ein besonnener Jurist bekannt, der nicht zu schnellen oder zugespitzten Urteilen neigt. Mit dieser Haltung hat er das Handeln der Berliner Behörden untersucht und mannigfaltiges Fehlverhalten von einer Art festgestellt, die man sich so dann doch nicht hätte vorstellen wollen, und die beunruhigen kann mit Blick auf die Zukunft. Das gilt nicht allein für die Berliner, sondern auch für andere beteiligte Behörden anderswo im Land.

Es geht nicht um Fehler, wie sie nun einmal passieren. Um Versäumnisse, die sich mit der Redensart abtun ließen, dass man ja hinterher immer schlauer sei. Nein, hier geht es um vermeidbare Fehler, die der nüchterne Jost bei der Vorstellung des Berichts mit Unverständnis kommentierte. Es wurde auf tragische Art die Gelegenheit verpasst, vorher schlau zu rein - und rechtzeitig mit dem nötigen Ernst zu handeln in einer ernsten Lage.

Es mutet bizarr an, wie lückenhaft die Überwachung von Amri gelaufen ist. Entsetzt liest man im Bericht die Aneinanderreihung von verpassten Gelegenheiten, Amri festzusetzen, ihn vielleicht in Haft zu nehmen.

Die Frage nach der Verantwortung erscheint zweitrangig

Man fragt sich, was die Ermittler für ihre Aufgabe hielten. Denn treffend sagt Jost, dass es sich ja "nicht um einen Hühnerdieb" handelte, sondern um einen Gefährder, der mehrmals Thema war im GTAZ, in jener Schnittstelle, wo sich die Behörden von Bund und Ländern über Extremisten gegenseitig informieren und Wissen austauschen. Jost sieht Momente in dieser Chronik des Versagens, bei denen alles falsch gemacht wurde, was falsch gemacht werden konnte.

Unfassbar ist zudem, was er über die Arbeitsumstände im zuständigen Dezernat LKA 5 des Berliner Landeskriminalamtes schreibt. Polizisten sprachen hinterher von "teilweise chaotischen" Zuständen im LKA 5, von übermäßiger Arbeitsbelastung und von mieser Ausbildung und Betreuung neuer Arbeitskräfte - in einem besonders sensiblen Bereich, in dem es erhebliche Gefahren für die Allgemeinheit zu verhindern gilt. Hier und bei anderen Versäumnissen ist die Verantwortung bei der Führung der Polizei zu suchen. Zudem haben die politisch Verantwortlichen offenbar nicht so reagiert, wie es angesichts der Terrorgefahr geboten gewesen wäre.

Aber die Frage nach der Verantwortung für das Geschehene erscheint zweitrangig. Jost ist zu Recht vorsichtig, wenn es um die Frage geht, ob durch ein anderes Handeln der Behörden der Anschlag generell hätte verhindert werden können. Er warnt vor einfachen Schlüssen. Niemand kann diese Frage beantworten. Sie ist hypothetisch und angesichts des Schreckens und der vielen Opfer unpassend, weil der Anschlag nicht ungeschehen gemacht werden kann. Keiner der beteiligten und gewiss um gute Arbeit bemühten Beamten wird leichten Herzens auf das Geschehen blicken.

Wirklich wichtig ist zu sehen, dass vieles hätte anders und besser laufen können, damit es künftig besser gemacht wird. Das ist jenseits der Fragen nach persönlicher Verantwortung einzelner der eigentliche Wert dieses Berichts und der Arbeit der Untersuchungsausschüsse in den Parlamenten. Es geht um die Verbesserung der Strukturen, um eine bessere Ausstattung der Behörden, vielleicht auch um das Bewusstsein, die Gefahren wirklich ernst zu nehmen. Die Sicherheitsbehörden und ihre politische Führung müssen nun genau hinschauen, um aus diesem tragischen Scheitern zu lernen.

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