Sexismus:"Mir geht es zu wenig um Kritik am gesellschaftlichen Nährboden"

Anne Wizorek

Die Feministin Anne Wizorek initiierte 2013 die Kampagne #Aufschrei.

(Foto: Stephanie Pilick/dpa)

Die Diskussion um die Vorwürfe gegen Harvey Weinstein erinnert an die #Aufschrei-Kampagne vor vier Jahren. Die damalige Initiatorin, Anne Wizorek, spricht darüber, warum diese Debatten auch frustrierend sein können.

Interview von Hannah Beitzer

Immer mehr Frauen in Hollywood beschuldigen Harvey Weinstein öffentlich, sie sexuell belästigt zu haben. Ähnlich war es auch vor vier Jahren in Deutschland, als Anne Wizorek bei Twitter die Kampagne #Aufschrei initiierte. Unter diesem Hashtag berichteten Frauen über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung. Die Feministin sieht heute Parallelen zwischen ihrer Kampagne und der aktuellen Debatte in den USA. Doch nach vier Jahren geht es ihr in der Diskussion immer noch zu sehr um Einzelfälle und nicht um gesellschaftliche Probleme.

SZ: Frau Wizorek, Sie haben gemeinsam mit anderen Frauen 2013 die Kampagne #Aufschrei initiiert. Erleben die USA gerade einen Aufschrei-Moment?

Anne Wizorek: Es fühlt sich von den beschriebenen Übergriffen her vieles sehr ähnlich an wie damals. Zwar gab es in den USA schon vorher Debatten und Kampagnen über sexuelle Belästigung, aber die Aufregung um den Filmproduzenten Harvey Weinstein hat schon ein besonderes Ausmaß. Zum einen, weil er ein sehr mächtiger Mann ist - und nun klar wird, dass sein Umfeld seine Übergriffe über Jahrzehnte gedeckt hat. Zum anderen weil die Frauen, die sich äußern, selbst als mächtig wahrgenommen werden, wie zum Beispiel eine Angelina Jolie. Dabei gibt es sexuelle Belästigung in allen Altersklassen, in allen gesellschaftlichen Schichten.

Es gab da eine jahrelange Mauer des Schweigens - was muss passieren, damit sie aufbricht?

Es braucht Mutige, die das Geschehene öffentlich aussprechen. Dieser Mut wird immer auch andere Betroffene anstecken. Aber es braucht eben auch Menschen, die ihnen glauben und sie unterstützen. Vorherige Versuche von Journalistinnen, Weinsteins Verhalten zu entlarven, wurden in den Chefredaktionen wieder beerdigt.

Jetzt gab es mittlerweile eine Beweislage, die sich nicht mehr zurückhalten ließ. Ähnlich war das schon bei Bill Cosby oder Bill O'Reilly zu beobachten. Ich glaube aber auch gerade die Trump-Wahl und der Rechtsruck weltweit haben hier einige noch mal besonders wachgerüttelt. Sie merken nun, dass Frauenrechte - Menschenrechte überhaupt - wieder zur Disposition stehen und wehren sich.

Welche Rolle spielt es für die Debatte, dass die betroffenen Frauen so berühmt sind?

Es ist schon interessant, dass viele der Schauspielerinnen, die sich jetzt äußern, etwas älter sind. Die sexuellen Übergriffe sind häufig passiert, als sie jung waren, am Anfang ihrer Karriere standen, noch keinen Einfluss hatten und wenig Erfahrung. Da wollten und konnten sie es sich mit einem mächtigen Produzenten nicht verscherzen. Eine Frau wie Angelina Jolie hingegen hat heute ein ganz anderes Standing und muss nicht mehr so um ihre Existenz und Karriere fürchten. Außerdem macht es auch einen Unterschied, wenn sich sehr viele Frauen zu Wort melden - das kann man nicht so leicht ignorieren oder in Zweifel ziehen wie die Beschwerde einer einzelnen.

Man darf nicht vergessen: Frauen wird häufig nicht geglaubt, wenn sie derartige Übergriffe öffentlich machen, sie werden angegriffen oder selbst dafür verantwortlich gemacht. Warum hat sie sich nicht gewehrt? Hat sie ihn gar provoziert? Übertreibt sie vielleicht? Wenn dann noch ein Machtgefälle dazu kommt, dann ist es ein enorm großes Risiko für die Frau, einen Mann öffentlich der sexuellen Belästigung zu bezichtigen. Das gilt übrigens nicht nur für Schauspielerinnen. Im Netz finden sich zum Beispiel zahlreiche Berichte von Auszubildenden, die von Vorgesetzten belästigt werden und überhaupt nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Bisher dreht sich die Diskussion vor allem um Weinstein, obwohl Schauspielerinnen berichten, dass er nicht der einzige übergriffige Mann in Hollywood ist, dass dahinter ein ganzes System steht. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses System geknackt wird?

Nur weil die Öffentlichkeit den Opfern von Weinstein glaubt, heißt das nicht, dass das auch für die anderen Opfer sexueller Übergriffe gilt. Das Risiko für Frauen, die Übergriffe öffentlich machen, besteht weiterhin. Die Frauen, die zum Beispiel Trump belästigt hat, werden vermutlich auf lange Zeit oder auch nie Gerechtigkeit erfahren. Insgesamt ist es aber auch einfacher zu sagen: "Harvey Weinstein ist ein Sexist und Vergewaltiger" als zu überlegen, welche Strukturen zu sexueller Belästigung führen. Nämlich Sexismus. Und Sexismus ist ein Problem, das nicht nur in Hollywood existiert.

Allein seit wir 2013 mit Aufschrei begannen, habe ich mehrmals erlebt, dass diese Debatten wieder bei Null anfangen, dass wir als Feministinnen immer wieder erklären mussten: Was ist eigentlich sexuelle Belästigung? Was ist Sexismus? Gibt es das alles überhaupt? Es erinnert manchmal an den Murmeltiertag und kann ganz schön frustrierend sein.

Also kein Fortschritt?

Doch, den gibt es natürlich! Es ist sehr gut, dass sich durch diese Debatten Betroffene ermutigt fühlen, sich zu Wort zu melden, vielleicht auch eine Beratung aufsuchen. Und es verstehen durchaus mehr Leute, dass dahinter ein strukturelles Problem steckt, statt es als Einzelfälle abzutun. Aber gesellschaftlicher Wandel ist eben langsam und er wird immer noch auf dem Rücken von Frauenrechten ausgetragen.

Was muss aber passieren, damit die Dynamik der Debatte nicht wieder erlischt?

Wenn klar ist, dass Betroffene sexualisierter Gewalt ernst genommen werden, statt sie anzugreifen und in Frage zu stellen, dann werden auch mehr von ihnen sichtbar werden. Ich würde mir außerdem wünschen, dass wir nicht ausschließlich über die Taten an sich sprechen, sondern sie ins Große und Ganze einordnen. Mir geht es zu wenig um Kritik am gesellschaftlichen Nährboden, auf dem Sexismus und damit sexualisierte Gewalt überhaupt gedeihen können. Genauso sollten wir dringend über Prävention sprechen. Wir vermitteln ja bereits unseren Kindern Geschlechterrollen, die ein Machtgefälle zwischen Jungen und Mädchen zementieren. Dabei gibt es Maßnahmen, um sexualisierte Gewalt zu verhindern, über die müssen wir reden und sie schließlich konsequent umsetzen.

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