Interview mit Jutta Allmendinger:"Wir zementieren Ungleichheit"

Die Platte lebt

Blick aus einem Plattenbau in Berlin-Marzahn: "Wir sehen, dass Leute ganz unterschiedlich wohnen, weil alle Mietpreisbremsen nicht funktionieren."

(Foto: picture alliance / dpa)

Die soziale Herkunft bestimmt in Deutschland immer noch die Aufstiegschancen, beklagt die Soziologin Jutta Allmendinger. Und erklärt, wie eine künftige Bundesregierung das ändern könnte.

Von Michael Bauchmüller und Stefan Braun, Berlin

Krieg, Klima, Flüchtlinge, kaputte Schulen - die nächste Bundesregierung steht vor riesigen Herausforderungen. Die SZ befragt Experten, was sie von einer Regierung in dieser Welt erwarten. Den Anfang machten der Politikwissenschaftler Herfried Münkler und der Klimaforscher Ottmar Edenhofer. Hier nun meldet sich Jutta Allmendinger zu Wort, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

SZ: Deutschland gehört zu den reichsten Industrienationen der Welt; der Sozialetat im Haushalt war noch nie so groß wie heute. Leben Sie in einem sozial gerechten Land?

Jutta Allmendinger: Nein.

Warum nicht?

Weil wir auf sehr unterschiedlichen Gebieten immer weiter auseinanderdriften. Wir sehen, dass die Distanz zwischen chancenreichen und chancenarmen Kindern immer größer wird. Zwischen Kindern, die blendend gut ausgebildet werden, die viel im Ausland sind, zig Zusatzausbildungen und Praktika machen - und Kindern, die kaum Bildung mitbekommen, zurückfallen, hängen bleiben, womöglich keine Ausbildung abschließen. Wir sehen riesige Probleme bei der Ungleichheit im Gesundheitswesen. Einige, die reich sind, können sich jedes Medikament leisten, andere müssen hoffen, ausreichend versorgt zu werden. Wir sehen, dass Leute ganz unterschiedlich wohnen, weil alle Mietpreisbremsen nicht funktionieren. Und wir sehen, dass die Leute mit niedrigem Bildungsstand und niedrigem Einkommen keine Aussicht darauf haben, aus diesen Schichten aufzusteigen.

Stößt die soziale Marktwirtschaft an ihre Grenzen?

Ja. Schauen Sie sich die Löhne an. Wir haben mit dem Mindestlohn zwar nach unten eine Grenze eingezogen, aber die hohen Löhne explodieren. Wie die Boni-Zahlungen. Man muss sich wirklich fragen, was eigentlich hinter einer Leistung steht - und wann eine Bezahlung damit gar nichts mehr zu tun hat.

Gleichwohl ist der Sozialetat groß. Warum wirkt das nicht?

Weil wir in einem Sozialstaat leben, der zwar viel Geld hat, dieses aber nicht sachgerecht, nicht zielgerichtet einsetzt. Es gibt Sozialleistungen, die unabhängig von den jeweiligen Möglichkeiten eines privaten Haushalts gezahlt werden.

Zum Beispiel?

Ich bekomme Kindergeld oder einen Steuerfreibetrag, obwohl ich es nicht wirklich brauche. Andere dagegen bräuchten dringend ein wesentlich höheres Kindergeld, um ihren Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen zu können. So zu handeln, ist nicht klug, weil man Milliarden verschenkt, mit denen man den Schwächeren ganz andere Chancen bieten könnte. Auf diese Weise kämpfen wir nicht für mehr soziale Gerechtigkeit. Wir zementieren Ungleichheit, wo Angleichung nötig wäre.

Wenn das stimmt, warum ist die soziale Frage nicht das zentrale Thema im Wahlkampf oder bei den Sondierungen gewesen?

Weil die Politik die grundlegenden Fragen, was unter sozialer Gerechtigkeit verstanden werden soll, nicht diskutiert. Martin Schulz benannte das Thema zwar zunächst als ein zentrales - und stürzte sich dann als Erstes auf das Thema Weiterbildung nach Eintritt der Arbeitslosigkeit. Das ist aber ein Puzzle-Stück und nicht der eigentliche Kern. Wie stellen wir uns hier und heute einen zielgerichteten Sozialstaat vor? Wie schaffen wir einen Staat, der Ungleichheit nicht einmauert, sondern bekämpft? Wie verbinden wir dabei eine kluge Bildungs- mit einer klugen Familien- und Gesundheitspolitik? Wie muss ein Sozialstaat mit ländlichen Regionen umgehen, die sterben? Was tun wir gegen das von vielen geteilte Gefühl, am Wohlstand nicht mehr teilhaben zu können? Diese Debatten haben nicht stattgefunden.

Interview mit Jutta Allmendinger: "Es trifft längst Menschen, die lange Zeit ein sicheres Leben hatten": Die Soziologin Jutta Allmendinger beklagt die soziale Ungleichheit in Deutschland.

"Es trifft längst Menschen, die lange Zeit ein sicheres Leben hatten": Die Soziologin Jutta Allmendinger beklagt die soziale Ungleichheit in Deutschland.

(Foto: Stephan Rumpf)

Wie erklären Sie sich das?

Nehmen Sie die Sondierungsgespräche. Das Thema soziale Gerechtigkeit wurde zerlegt in kleine Teile einzelner Ressorts. Ein bisschen Gerechtigkeit bei der Rente, ein bisschen beim Wohnen, ein bisschen was bei der Pflege. Und jede einzelne Maßnahme ist teuer. Ein kluges Gesamtpaket fehlt. Stattdessen fördern wir lieber viele ein bisschen, es soll ja auch wirklich keiner zu kurz kommen.

Aber bei den Sondierungen für ein Jamaika-Bündnis ging es doch auch darum, wie sich Bildung und Schulen verbessern lassen.

Im Grundsatz ist das gut und richtig. Aber solange ich nicht sehen kann, ob wirklich jene Schulen profitieren, die es am dringendsten bräuchten, weiß ich auch nicht, ob das das Land sozial gerechter macht. Um es hart zu sagen: Ein Schulförderprogramm, das am Ende doch wieder den Schulen hilft, in denen die gut versorgten Kids lernen, wird die Spaltung im Land nicht bekämpfen. Im Gegenteil. Wenn wir soziale Gerechtigkeit wirklich anstreben, dann müssen wir die Aufstiegschancen der Schwächsten verbessern.

Warum passiert das nicht?

Weil Politiker - siehe Sondierungen - nicht über das große Ganze sprechen. Das ist übrigens in der großen Koalition bei der Mütterrente ganz ähnlich gelaufen.

Inwiefern?

Die löst überhaupt keine Probleme, sie beseitigt keine Ungleichheit und ist nicht einmal eine Antwort auf den immer stärker werdenden Populismus oder die Abwendung von den großen Volksparteien.

Warum regen Sie sich darüber auf? Bringt das nicht wenigstens ein bisschen mehr Gerechtigkeit, in diesem Fall für Mütter?

Ich rege mich über Symbolpolitik auf, die vom eigentlichen Problem ablenkt, und zwar seit Jahrzehnten. Der Frage nämlich, wie wir die Spaltungen effektiv bekämpfen. Soziale Gerechtigkeit sollte in vielen Ressorts eine Rolle spielen, sie sollte nicht nur einem Ministerium zugeordnet sein. Jedenfalls dann, wenn man ernsthaft das Ziel hat, die Verwerfungen zu überbrücken.

"Es trifft längst Menschen, die lange Zeit ein sicheres Leben hatten"

Wie soll sich das ändern?

Indem auch jene Parteien, die das Soziale im Wahlkampf nicht nach vorne gestellt hatten, den Mut finden, die Familien-, die Bildungs-, die Integrations-, Gesundheits-, Arbeits- und Sozialpolitik gemeinsam zu denken und gemeinsam darüber zu entscheiden. Die Spaltungen, die wir allerorts sehen, müssen wir systematisch angehen. Die Leitfrage ist: Wie können wir das Geld, das uns für Soziales zur Verfügung steht, so umverteilen, dass es wirklich den Schwächsten am meisten hilft?

In der Wirtschaft würden viele entgegnen: Jeder ist seines Glückes Schmied. Gibt es in diesem Land zu wenig Anreize, mehr aus seinem Leben zu machen?

Ich denke nicht. Es hält sich hartnäckig der Glaube, dass wenn Personen mehr Anreiz haben, sie dann auch mehr zu leisten bereit sind. Quasi ohne jedes Limit. Diese Annahme ist wissenschaftlich widerlegt. Trotzdem tun wir so, als würde es der Wirtschaft gutgehen, weil wir so eine große Spreizung bei den Einkommen haben. Das ist nicht klug, es führt komplett in die falsche Richtung.

Wie könnte Politik so etwas beenden? Muss man neu über Leistung und Entlohnung nachdenken?

Ja, das müsste man. Dringend. Aber wir tun auch das wieder nur häppchenweise. In der Vorspeise reden wir über eine bessere Bezahlung in Pflegeberufen; im Hauptgang sprechen wir über die Frage, wie wir allgemeine Lohnerhöhungen organisieren sollen; und zum Nachtisch diskutiert man vielleicht mal über eine Vermögenssteuer. Aber es bleibt ein wüstes Durcheinander, das mehr zerstört als hilft. Das Vertrauen in Politik wird so nicht gefördert.

Was muss eine neue Regierung machen, wenn sie irgendwann zustande kommt? Muss sie sich noch mehr um die Schwachen kümmern?

Nein, das wäre verkürzt gedacht. Es trifft längst Menschen, die lange Zeit ein sicheres Leben hatten. Die nach wie vor eigentlich ein gutes Einkommen haben, einen guten Job und eine ordentliche soziale Versorgung. Sie treibt die Angst um, dass so, wie sie ihren normalen gegen einen digitalen Sensorstaubsauer ausgetauscht haben, auch sie abgeschafft werden. Doch niemand gibt ihnen die Hand, bietet ihnen jetzt und heute eine Weiterbildung an, die sie vorbereiten würde für das, was auf sie zukommt.

Wer sollte diese Hand reichen?

Zum Beispiel die Bundesagentur für Arbeit. Bislang kümmert sie sich nur um jene, die bereits ihren Arbeitsplatz verloren haben. Das ist nicht falsch. Aber es reicht hinten und vorne nicht mehr. Wir wissen doch, wie sehr und wie schnell sich die Welt ändert. Deshalb müssten die Bundesagentur und die Jobcenter Fortbildung und Weiterbildung gerade für jene anbieten, die nach wie vor einen guten Job haben, aber trotzdem vor Veränderungen stehen. Sie müsste eine Bildungsagentur werden und dürfte keine Arbeitslosenbetreuungsagentur bleiben. Eine neue Regierung müsste dafür den Weg ebnen.

Passt denn die Struktur der Regierung überhaupt noch in die Zeit? Ist für Sie die herkömmliche Aufteilung der Ministerien überholt?

Ja. Weil sie die Menschen und die Welt in viele einzelne Schubladen packt.

Was würden Sie sich wünschen?

Dass es nur noch vier, fünf große Ministerien gibt - und man in den einzelnen Häusern größer denkt. Nehmen Sie ein Arbeits-, Sozial- und Integrationsministerium. Oder eines für Auswärtige Politik, Verteidigung und Entwicklungshilfe. Dabei würde ich die alten Ministerien nicht einfach zu einzelnen Abteilungen im neuen Haus machen, sondern tatsächlich versuchen, Themen systematisch gemeinsam zu denken und zu verschränken. So könnte man auch radikale Widersprüche beenden.

Was lesen Sie aus dem Wahlergebnis der AfD?

Dass es uns nicht gelungen ist, den Menschen die Furcht vor Neuem zu nehmen, sie zu öffnen für das Unbekannte. Und dass wir jetzt zu spüren bekommen, dass es immer weniger Orte und Anlässe gibt, wo die Menschen zusammenkommen. Früher war der Firm- oder Konfirmandenunterricht so ein Ort. Oder der Sportklub, der Musikverein, die Theatergruppe. Am allerstärksten merkt man es in den Grundschulen. Schauen Sie sich die Segregation an. Als ich in die Grundschule kam, traf sich da die ganze Gesellschaft. Und heute? In den Großstädten? Ist das längst vorbei. Wir erleben eine unglaubliche Entflechtung der Gesellschaft, die ich als das größte Problem überhaupt ansehe.

Es gibt nicht nur Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Es gibt Kriege und Krisen, es gibt das große Klimaproblem, es gibt die Megaaufgabe Integration. Gibt es etwas, das Ihnen noch wichtiger ist als die soziale Frage?

Nein. Ich denke, der Kampf gegen das Auseinanderdriften ist das Wichtigste. Nur wenn wir dabei erfolgreich sind, können wir erfolgreich mit dem Klimawandel oder den Krisen in der Welt umgehen. Dafür brauchen wir einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, sonst wird es uns nicht gelingen, in der Welt der Krisen und des Klimawandels zu bestehen.

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