Münchner Momente:Definition der Freiheit

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Wenn ein Attac-Chor und Sicherheitskräfte der U-Bahnwache aufeinander treffen

Kolumne von Kassian Stroh

Ey özgürlük", schmettert der Chor inbrünstig. "Hey, Freiheit!", ein Lied der türkischen Opposition. Und wie es die Linksbewegten schmettern! Da aber kommt die Ordnungsmacht daher, in Gestalt der U-Bahn-Wache, und die hat für so etwas gerade gar keinen Sinn. Das geht ja nicht, dass sich da einfach so zwei Dutzend Sänger im Zwischengeschoss aufbauen, ein E-Piano noch dazu. Und das sagen die beiden jetzt der Pianistin klar und deutlich, die aber ignoriert das Duo völlig. Das wollen sie auch dem Dirigenten klar machen, sie versuchen, ihn mit ihren breiten Kreuzen beiseite zu schieben, aber der dirigiert und singt einfach weiter: "Ey özgürlük!"

Auch den U-Bahn-Wachleuten geht es um Freiheit, um die Freiheit der Fluchtwege, wie sie dann doch noch erläutern können, als die Sänger ihr Lied endlich beendet haben. Das mag ein formal korrektes Argument sein, faktisch hat es freilich wenig Bedeutung: Bräche hier unten eine Panik aus und drängten alle Menschen hinaus, fände ihre Flucht spätestens 50 Meter weiter am U-Bahn-Ausgang ihr Ende, wo sich Hunderte derart zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts drängen, dass ihre persönliche Freiheit keinen Viertelquadratmeter Boden mehr umfasst. Also gut, ein letztes Lied lässt die inzwischen auf fünf Mann angewachsene Truppe der U-Bahn-Wache noch singen, diesmal auf italienisch: "Gegen die Gewalt der Gleichgültigkeit, um niemals zu vergessen: Freiheit wird sein!"

Es ist der Attac-Chor München, und der hat natürlich eine Botschaft. "Oh Panama, oh Panama, wie tief sind deine Steuern", das haben sie zu Beginn gesungen, auf die Melodie von "Oh Tannenbaum". Oder auch die Friedenshymne "We shall overcome". Über sich selbst schreibt der Chor: "Unser Repertoire ist kritisch und frech und richtet sich gegen soziale Ungerechtigkeit, Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung, Raubtier-Ökonomie und Rassismus." Das Keyboard ist ökologisch korrekt per Klappfahrrad herangeschafft worden, politisch korrekt hängt ein Plakat daran: "Freiheit für Mesale Tolu". Wo sonst sollte der Chor singen als hier, an der Münchner Freiheit? So lange ihn nur die Ordnungsmacht lässt.

© SZ vom 22.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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