Angriff auf Ex-Spion:Was ist ein Nervengift?

Russischer Ex-Spion im Krankenhaus - Ermittlungen im Fall Skripal

Ermittler arbeiten im Restaurant "Zizzi" in Salisbury, das in Zusammenhang mit der mutmaßlichen Vergiftung des Doppelagenten Skripal steht. Schutzanzüge und Atemmasken sind wichtig, damit Nervengifte nicht in den Körper eindringen.

(Foto: Steve Parsons/dpa)
  • Nach Aussage der britischen Innenministerin Amber Rudd wurden der Ex-Spion Sergej Skripal und seine Tochter Yulia mit einem "seltenen Nervengift" angegriffen.
  • Nervengifte wirken alle in etwa gleich auf den menschlichen Körper: Sie blockieren ein lebenswichtiges Enzym.
  • Es gibt hierfür ein Gegengift - wenn es denn schnell genug gespritzt wird.

Von Felix Hütten

Noch ist nicht bekannt, mit welcher Substanz der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Yulia in Großbritannien vergiftet wurden. Skripal, seine Tochter und ein Polizist, der ihnen zur Hilfe kommen wollte, liegen seit der Attacke im Koma. Medienberichten zufolge soll sich Skripal beim Eintreffen der Polizei gekrümmt und erbrochen haben, während seine Tochter bereits bewusstlos war. Zwei weitere Beamte klagten nach dem Einsatz über Augenbrennen und Husten, sie sind jedoch nicht mehr in Behandlung.

Die britische Innenministerin Amber Rudd sagte im Interview mit dem BBC-Radio, dass es sich um ein "seltenes Nervengift" handle. Der BBC zufolge wurde Skripal nicht mit Sarin oder VX vergiftet. Sarin ist eines der weltweit bekanntesten Nervengifte, es kam einem UN-Bericht zufolge zuletzt im Syrienkrieg zum Einsatz. Der chemische Kampfstoff VX wirkt ähnlich wie Sarin und tötete im vergangenen Jahr den Halbbruder des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong Un.

Weiterhin möglicherweise verwendete Nervengifte, die die bei den drei Opfern beobachteten Symptome auslösen, sind Tabun, auch als GA bekannt, sowie Soman. Darüber hinaus wird in der Öffentlichkeit auch über einen Angriff mit radioaktivem Polonium-210 spekuliert, mit dem im Jahr 2006 der frühere russische Agent Alexander Litwinenko vergiftet wurde.

Verwirrtheit, Übelkeit - und letztlich Tod durch Atemlähmung

Polonium-210 ist eine radioaktive Substanz, die streng genommen nicht zur Klasse der Nervengifte zählt. Dennoch gilt es als perfekte Waffe für einen geräuschlosen Mord, da die ausgesandte Alphastrahlung an sich harmlos ist und die Haut oder ein Stück Papier nicht durchdringt. In einer Dose oder Flasche ist die Substanz von außen nicht nachzuweisen - und kann damit leicht geschmuggelt werden. Allerdings braucht es für die Herstellung ein Speziallabor.

Gelangt Polonium in den Körper, zum Beispiel über ein Getränk, zerstört die Alphastrahlung das Erbgut gesunder Zellen und blockiert damit die lebenswichtige Teilungsfunktion. Die Wirkung des Gifts macht sich daher zunächst in Gewebe bemerkbar, das sich schnell teilt: Knochenmark, Darm, Haut. In niedrigeren Dosierungen leiden Opfer unter Übelkeit und Verwirrtheit, in höheren Dosierungen bluten sie aus Nase, Mund und After. Der Tod kommt schließlich mit hohem Fieber und massiven inneren Blutungen, die nicht therapierbar sind.

Ebenso möglich wäre eine Vergiftung mit Tabun, das weitaus einfacher herzustellen ist als Polonium. Der deutsche Chemiker Gerhard Schrader entdeckte Tabun kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das Gift blockiert, ähnlich wie Sarin, die sogenannte Acetylcholinesterase des Körpers. Dadurch sammelt sich der Neurotransmitter Acetylcholin im synaptischen Spalt von Nervenzellen. In Folge werden Muskeln quasi durch ein Dauerfeuer übererreget, es treten Kopfschmerzen, Zittern, Erbrechen, Krämpfe, unkontrollierbarer Abgang von Urin und Stuhl auf - und schließlich folgt ein grausamer Tod durch Atemlähmung. Die Aufnahme des Gifts ist über die Haut oder die Atmung möglich, schon kleinste Mengen wirken tödlich.

Ähnlich wie Tabun wirkt auch das Nervengift Soman. Es wurde 1944 vom österreichisch-deutschen Chemiker Richard Kuhn entdeckt, kam während des Zweiten Weltkriegs aber nicht mehr zum Einsatz. Während des Kalten Kriegs produzierte die Sowjetunion Soman in größeren Mengen. Das Gift, das sich chemisch nur in einem kleinen Detail von Sarin unterscheidet, wirkt in hohen Dosierungen sofort tödlich. In niedriger Dosierung führt es, ganz ähnlich wie Tabun, zu Verwirrtheit, Übelkeit - und letztlich zum Tod durch Atemlähmung.

Auch Sarin und VX, die im aktuellen Fall offenbar nicht verwendet wurden, blockieren das Enzym Acetylcholinesterase, das eigentlich wie ein Staubsauger im synaptischen Spalt aufräumt und damit den Weg frei macht für eine Erregungspause der Zelle. Alle vier Gifte boxen die Acetylcholinesterase zur Seite und halten sie von der Arbeit ab. Dadurch ist der überlebenswichtige Staubsauer außer Gefecht gesetzt, die Zelle bleibt in einem lebensgefährlichen Zustand der Dauererregung. Als Gegenmittel kann das Gift der Tollkrische helfen - Atropin; allerdings ist dies eine Frage der Zeit. Haben lebenswichtige Körperfunktionen wie Kreislauf und Atmung bereits über mehrere Minuten ausgesetzt, überlebt der Patient in der Regel nicht.

Chemisch betrachtet sind diese Nervengifte, mit Ausnahme von Polonium, recht einfach herzustellen. Die Inhaltsstoffe sind leicht zu beschaffen, teilweise sogar legal zu kaufen. Damit ist die Produktion in einem Hobbylabor theoretisch möglich - jedoch zugleich lebensgefährlich. Passiert beim Anmischen ein Fehler, kann der Chemiker sterben. Sollten Skripal und seine Tochter daher tatsächlich mit einer der beschrieben Substanzen vergiftet worden sein, spricht dies für einen politisch motivierten Angriff. Laienmörder würden wahrscheinlich einfachere Methoden wählen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: