Dyskalkulie:"Uns geht da enormes Potenzial verloren"

Rechnen

Eine Dyskalkulie kann man erst im Schulalter diagnostizieren.

(Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Was ist ein simples Mathe-Problem und wo beginnt eine ernsthafte Rechenstörung? Was hilft den betroffenen Schülern? Der Kinder- und Jugendpsychiater Gerd Schulte-Körne erklärt, was die neue Leitlinie zur Dyskalkulie empfiehlt.

Interview von Jan Schwenkenbecher

Manche Kinder leiden unter einer Dyskalkulie. Den Betroffenen fehlt das mathematische Grundverständnis. Aber nicht jedes Kind, das sich in Mathe schwertut, hat auch eine Rechenstörung. Um Medizinern präzise Diagnoseverfahren und Pädagogen Fördermethoden aufzuzeigen, gibt es nun eine neue Dyskalkulie-Leitlinie. Mehr als 20 Verbände und Experten haben diese erarbeitet, sie hat die höchste Qualitätsstufe "S3". Der Kinder- und Jugendpsychiater Gerd Schulte-Körne, Koordinator der Leitlinie, erklärt, was sie bringt.

SZ: Es gibt schon Kriterien für Dyskalkulie. Warum eine neue Leitlinie?

Gerd Schulte-Körne: Die bestehenden Kriterien sind entweder US-amerikanisch oder von der WHO. Die S-3-Leitlinie bezieht sich auf Deutschland.

Gibt es da denn Unterschiede?

Die bisherigen Kriterien werden im medizinisch-psychologischen Bereich genutzt, im pädagogischen eher selten. Die Kinder tauchen aber mit ihren Problemen in der Schule auf. Das Ziel war, mit all jenen eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, die mit betroffenen Kindern arbeiten. Also auch mit Lehrkräften, Lerntherapeuten, Erziehungsberatungsstellen und der Jugendhilfe.

Drei bis sechs Prozent aller Menschen leiden an Dyskalkulie. Die neuen Diagnose-Empfehlungen sind umfassender als die bisherigen. Sinken die Zahlen künftig?

Nein. Die Diagnosen werden spezifischer. Es gibt viele Kinder und Jugendliche mit Mathe-Problemen, aber nicht jedes von ihnen hat eine Rechenstörung. Den Kindern, die wir meinen, fällt es in der Schule schwer, die Grundrechenarten zu lernen und sich Zahlenverhältnisse vorzustellen. Ist 67 kleiner als 76? Was ist der Unterschied zwischen einer 1, die in der Zahl 10 vorkommt, und einer alleinstehenden 1? Ihnen fehlen grundlegende Konzepte und die lernen sie nur schwer.

Wann zeigt sich das?

Wenn die Kinder in der Rechenentwicklung von Anfang an riesige Probleme haben. Etwa wenn sie weiter abzählen, auch wenn kompliziertere Mal-Aufgaben dran sind. Da sollte das Rechnen eigentlich abstrakter werden. Wenn man genau hinschaut, kann man auch im Vorschulalter schon Hinweise entdecken - Probleme mit Mengenverhältnissen und beim Abschätzen von Größen, etwa drei und vier Äpfel zu unterscheiden.

Vor der Einschulung spricht man nur von einem Dyskalkulie-Risiko. Warum?

Dyskalkulie bezeichnet eine Störung. Richtig erkennen kann man die aber erst Ende der ersten, Anfang der zweiten Klasse. Es gibt Kinder, die in der Vorschule Probleme beim Abzählen haben, aber in der Schule keine Rechenstörung entwickeln.

In der Leitlinie steht auch, Ärzte sollen klinische Tests und eine Differentialdiagnose machen. Etwa, um Hirnschäden auszuschließen. Muss jedes Kind, das schlecht rechnet, in den Hirnscanner?

Nein. Das wäre ja absolut übers Ziel hinausgeschossen.

Wie Kinder gefördert werden sollen

Gerd Schulte-Körne

Gerd Schulte-Körne leitet die Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München. Er hat die Herausgabe der neuen S3-Leitlinie zur Dyskalkulie koordiniert.

(Foto: privat)

Warum steht es dann da?

Es geht darum, andere Erkrankungen als Ursache für die Rechenstörung auszuschließen.

Zum Beispiel eine Intelligenz-Minderung, ADHS oder Augenprobleme?

Genau, davon muss man abgrenzen. Oder ob Kinder durch ihre soziale Situation oder psychische Belastungen generell schlechter lernen. Das würde sich dann auch in anderen Bereichen zeigen. Ganz selten gibt es auch Ursachen wie eine Chromosomen-Anomalie, die oft zu anderen körperlichen Veränderungen führt, aber den Eltern und Ärzten bereits vorschulisch aufgefallen wären. Der Hirnscanner dient weniger zur Diagnostik, er hilft uns herauszufinden, warum ein Kind Rechenstörungen hat.

Ist das überhaupt umsetzbar, alle Eventualitäten auszuschließen?

Die Idee ist ein gestuftes Vorgehen. Zunächst ist da der Lehrer, der sieht, wie sich ein Kind entwickelt. Stellt er Probleme fest, kann er die Eltern auffordern, eine entsprechende Diagnostik durchführen zu lassen. Die ist die Aufgabe von Therapeuten und Psychiatern. Wir haben da in Deutschland eine gute Versorgung - es ist nicht so, als wäre das nicht möglich.

Danach wird gefördert. Wie?

Man fängt bei den Basisfertigkeiten an. Es gibt Computerprogramme, mit denen die Kinder zunächst ein basales Zahlenkonzept entwickeln können. Wertigkeit oder Mächtigkeit von Zahlen, Kardinalität, Ordinalität, Zahlenstrahlaufgaben. Erst danach werden Rechenarten geübt. Das nächste Niveau sind Textaufgaben. Der Vorteil der Programme ist, dass sie an den Leistungsstand des Kindes angepasst werden und sie selbständig üben können. Haben Kinder aber psychische Belastungen, müssen sie mit einem Therapeuten üben. Oft haben sie dann massive Ängste, die so weit gehen, dass sie nicht mehr in die Schule gehen wollen.

Mindestens 45 Minuten soll eine Sitzung dauern. Wie oft sollte geübt werden?

Dazu gibt es keine Daten. Die Empfehlung ist ein Mal pro Woche, mehr ist nicht möglich. Computerprogramme können natürlich häufiger genutzt werden. Was in der Leitlinie nicht steht: Die Finanzierung dieser Maßnahme ist vollkommen ungeklärt.

Von "finanziell womöglich belastenden Einzelsitzungen" ist die Rede.

Genau. Aber eine Lösung steht nicht drinnen. Die gibt es in Deutschland nämlich noch nicht.

Was kostet so eine Sitzung denn?

40 bis 80 Euro pro Stunde.

Und das müssen Eltern selbst zahlen?

Ja. Oder, sofern eine seelische Behinderung droht, können sie bei der Jugendhilfe eine Eingliederungshilfe beantragen. Das geht auch.

Wenn also zu befürchten ist, dass das Kind psychische Probleme entwickelt.

Die psychische Komponente ist wichtig, aber letztlich geht es um die gesamte Integration. Wenn dem Kind droht, in seiner psychosozialen Entwicklung insgesamt erheblich beeinträchtigt zu sein. Hier sagt der Staat, dass die Jugendhilfe verpflichtet ist, Maßnahmen zu ergreifen.

Was ist das Ziel der Förderung: Normalität oder im Alltag klarzukommen?

Letzteres. Es geht darum, dass Betroffene grundlegende Aufgaben der Alltagsbewältigung sicher schaffen.

Beim Bäcker bezahlen, Kleingeld wechseln, solche Dinge?

Genau. Aber wir versuchen auch, die Kinder so zu stärken und zu stützen, dass sie durch die Schule kommen. In Bayern ist das extrem schwierig, weil Mathematik als gesetztes Fach in allen Abschlüssen steckt und betroffene Kinder ohne Nachteilsausgleich oder Notenschutz eigentlich keine Chance haben.

Also Mathe raus aus Abschlussprüfungen für Kinder mit Dyskalkulie?

Aus meiner Sicht wäre das eine Option. Natürlich wird kein Bildungspolitiker sagen, "wir wollen das". Es würde aber auch schon helfen, diese Kinder so zu unterstützen, dass sie das Abitur oder die Realschule schaffen. Auch Kinder mit Dyskalkulie können durch Förderung mathematische Fertigkeiten erlangen - aber nicht das, was da gefordert wird. Uns geht da enormes Potenzial verloren.

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