Pharmazie:Die Pflanzendetektivin

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Mit den Beeren des Brasilianischen Pfefferbaums will Cassandra Quave infizierte Wunden behandeln.

(Foto: Ann Borden)

Neue Antibiotika werden dringend benötigt. Die Ethnobotanikerin Cassandra Quave greift auf das Heilwissen indigener Völker zurück und sucht in der Natur nach neuen Wirkstoffen.

Von Kai Kupferschmidt

Man stellt sich eine Schatzkammer anders vor. Diese hier ist ein temperierter Raum in einem unansehnlichen Gebäude außerhalb von Atlanta. Ein paar Metallschränke stehen darin, mannshoch, dunkelgrün und von unten bis oben gefüllt mit Pflanzen, die liebevoll getrocknet und auf Papier geklebt wurden. Rund 20 000 Gewächse umfasst die Sammlung der Emory-Universität, es gibt anderswo weit größere. Doch für Cassandra Quave, die Hüterin dieses Herbariums, ist es ein Schatz. Schließlich handelt es sich nicht um irgendwelche Pflanzen.

Die Forscherin hat viele selbst gesammelt, in Albanien, dem Amazonas oder auf Sizilien, vor allem solche, die die Menschen dort nutzen, um Infektionen auf der Haut zu behandeln. Quave ist Ethnobotanikerin, eine Art Pflanzendetektivin. Sie erforscht Pflanzen, die als Naturheilmittel verwendet werden und versucht, die Wirkstoffe in ihnen zu finden. Ein Ziel interessiert sie besonders, ein alter Widersacher: das Bakterium Staphylococcus aureus. Ein Mittel gegen diesen Intimfeind, das ist der größte Schatz, der sie lockt.

Dass Pflanzen wichtige Medikamente hervorbringen können, ist nichts Neues. Aspirin stammt ursprünglich aus der Weidenrinde, Morphin aus der Mohnpflanze und das Krebsmedikament Taxol aus der pazifischen Eibe. 2015 wurde der Nobelpreis für Medizin an die chinesische Forscherin Tu Youyou verliehen, die das mächtige Malaria-Medikament Artemisinin aus dem einjährigen Beifuß isolierte. Die meisten dieser Arzneien haben Forscher nur deswegen entdeckt, weil die Pflanzen schon lange als Heilmittel genutzt wurden. "Die Leute glauben immer, die mächtigste Medizin stecke in irgendeiner Orchidee an der Spitze eines Baumes im Urwald und man müsse dann da hochklettern, um sie zu bekommen", sagt Quave und lacht. "Das ist Hollywood. In der Realität sind es eher die Sachen, die leicht zu bekommen sind, das Unkraut, das an der Seite der Hütte wächst."

Der Brasilianische Pfefferbaum zum Beispiel. In Quaves chemischem Labor, ein paar Minuten zu Fuß vom Herbarium entfernt, trocknen Hunderte rote Beeren dieses Baums. Quave hat sie in Florida gesammelt, nahe dem Haus ihres Vaters. Eigentlich stammt der Baum aus Mittel- und Südamerika, doch im 19. Jahrhundert wurde er nach Florida importiert, wo er seitdem alles überwuchert. Heute steht sein Besitz in dem US-Bundesstaat unter Strafe und zig Millionen Dollar werden jedes Jahr ausgegeben, um den Eindringling zu bekämpfen. Auch in Australien und Südafrika gilt das Gewächs als ein unbeliebtes Unkraut.

Wie ein General, der nicht direkt die feindlichen Soldaten angreift, sondern ihre Kommunikationszentrale und Waffenfabriken zerstört

Zugleich wird der Baum in Südamerika seit Jahrhunderten zur Behandlung einer Reihe von Krankheiten eingesetzt. So werden die Blätter erhitzt und gegen Rheuma eingesetzt, mit der Rinde werden zum Beispiel Verbrennungen behandelt. Quave interessiert sich vor allem für die Beeren, die zur Behandlung von infizierten Wunden verwendet wurden. In einer Arbeit, die im Februar im Fachblatt Scientific Reports veröffentlicht wurde, zeigte sie, dass eine Mischung mehrerer Inhaltsstoffe wichtige Prozesse in manchen Bakterien hemmt.

Quave konzentriert sich bei ihrer Arbeit auf solche Stoffe, die gegen Infektionen helfen könnten. Ihr Kampf hat etwas persönliches, das gibt die Forscherin sofort zu. "Irgendwo habe ich noch ein Foto von vor der Amputation", sagt sie, während sie auf ihrem Handy das Album durchgeht. Dann findet sie es, ein altes Kindheitsfoto, das sie abfotografiert hat: Ein wenig schief steht die kleine Cassandra da in der Sonne, blonde Locken, breites Lächeln. Das linke Bein steht fest auf dem Boden, das rechte schwebt in der Luft, es ist deutlich kürzer und schmaler. Quave fehlen bei der Geburt mehrere Knochen im linken Fuß und ein Unterschenkelknochen.

Im Alter von drei Jahren wird der Fuß amputiert. Doch etwas stimmt nicht. Ein paar Tage nachdem Quave aus dem Krankenhaus kommt, beginnt die Wunde übel zu riechen. Ihre Mutter erreicht die Ärzte nicht. Schließlich kommt eine Freundin, die gerade ihr Medizinstudium beendet hat. "Sie hat den Verband geöffnet, das Fleisch war regelrecht verfault", sagt Quave. Ein Bakterium hatte die Wunde infiziert: Staphylococcus aureus. Die Ärzte müssen noch einmal amputieren, knapp unter dem Knie dieses Mal. Sie lassen gerade genug Unterschenkel übrig, um eine Prothese befestigen zu können.

Gegen den gleichen Keim, der sie ihr Bein gekostet hat, hat Quave nun die Beeren des Brasilianischen Pfefferbaums eingesetzt. "Staphyloccus aureus hat mich beinahe umgebracht", sagt sie. "Natürlich ist diese Forschung auch eine Art Vendetta." Quave hat heute ein ganzes Labor mit modernsten Methoden auf ihrer Seite. Doch auch das Bakterium hat sich weiterentwickelt: Als Quave ein Kind war, ließ sich das Bakterium noch mit dem Antibiotikum Methicillin behandeln. Heute sind viele Stämme von Staphyloccus aureus dagegen resistent. Diese Keime, kurz MRSA genannt, sind nur eine Front in einem Kampf, den die Menschheit langsam zu verlieren scheint.

Selbst wenn kein Wundermittel in ihrem Herbarium lagert, haben die Pflanzen einen Nutzen

Immer häufiger sehen sich Ärzte mit Bakterien wie Acinetobacter baumanii oder Pseudomonas aeruginosa konfrontiert, die sich mit vorhandenen Antibiotika nicht mehr behandeln lassen. Kürzlich warnte die Weltgesundheitsorganisation, dass die Gonorrhö auf dem Weg ist, eine unbehandelbare Krankheit zu werden. Die Wunderwaffen von gestern sind stumpf geworden.

"Es wird jetzt natürlich verzweifelt nach neuen Antibiotika gesucht", sagt der Pharmakologe Fritz Sörgel, Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg. Dabei suchen Forscher überall: in Bodenproben, in Mikroben in und auf dem menschlichen Körper oder in Bibliotheken aus Millionen Molekülen. Und eben auch wieder in Pflanzen. Forscher hätten in der Vergangenheit schon einmal ihre Hoffnung in Pflanzen gesetzt, sagt Sörgel. Aber dabei sei nichts herausgekommen. "Nicht eines der relevanten Antibiotika stammt aus Pflanzen."

Gibt es also überhaupt etwas zu finden im Pflanzenreich? Wenn man Quave glaubt, hängt das vor allem davon ab, was man genau sucht. Forscher hätten in den vergangenen Jahrzehnten meist nach Substanzen gesucht, die das Wachstum von Bakterien hemmen oder sie direkt töten. Quave verfolgt eine andere Strategie. Sie sucht Substanzen, die Bakterien daran hindern, miteinander zu kommunizieren und sich zu Biofilmen zusammenzuschließen oder gefährliche Giftstoffe zu produzieren. Wie ein General, der im Krieg nicht direkt die gegnerischen Soldaten angreift, sondern ihre Kommunikationszentrale und ihre Waffenfabriken zerstört.

Sie spricht mit Heilern in Peru und lernt pflanzliche Mittel kennen, die seit Generationen genutzt werden

MRSA sei ein guter Keim, um diese neue Strategie auszuprobieren, da er eine Menge Giftstoffe produziere. "Die zerstören Immunzellen, greifen das Abwehrsystem an und überwältigen es, sodass die Bakterien sich im ganzen Körper ausbreiten können." Eben da greift zum Beispiel der Wirkstoffcocktail an, den Quave im Brasilianischen Pfefferbaum gefunden hat. Diese neuen Substanzen könnten helfen, das Machtverhältnis zugunsten des Wirtes zu verlagern. Hoffentlich eines Tages auch bei Patienten, sagt Quave. "Ich habe das Gefühl, dass ich für diese Arbeit bestimmt bin."

Die Medizin war für Quave ein Kindheitstraum. Und ihre Realität. Nach der zweiten Amputation muss sie immer wieder ins Krankenhaus. Jedes Mal, wenn sie einen Wachstumsschub macht, dringt der Knochen wie ein Speer aus dem Stumpf hervor, und die Ärzte müssen ihn wieder absägen. "Die Helden meiner Kindheit waren meine Ärzte", sagt sie. "Ich habe so viel Zeit mit ihnen verbracht." Als Kind sammelt Quave Wasser aus einem nahen Graben, um es unter dem Mikroskop anzuschauen. Als Teenagerin hilft sie in der Notaufnahme aus. Wenn ihre Mutter will, dass sie Freitagabend zu Hause bleibt, gibt es Streit. "Dann kommen doch die ganzen Opfer von den Kneipenschlägereien rein", sagt sie.

Eher durch Zufall landet Quave schließlich in der Ethnobotanik. Eine Reise in das Amazonasgebiet öffnet ihre Augen für die traditionelle Medizin. Sie spricht mit Heilern in Peru und lernt pflanzliche Heilmittel kennen, die seit Generationen genutzt werden. "Die Frage für mich war: Steckt da was dahinter? Können wir so neue Medikamente finden?", sagt Quave. "Ich bin von dem Trip wiedergekommen und habe beschlossen, das weiter zu verfolgen, anstatt Medizin zu studieren." Endgültig beantworten kann sie die Frage noch nicht, aber inzwischen hat sie eine ganze Reihe interessante Stoffe gefunden. Neben den Substanzen aus dem Brasilianischen Pfefferbaum etwa in der Kastanie und im Johanniskraut.

Ihr Labor untersucht rund 400 verschiedene Pflanzen, drei Mischungen hat Quave bereits patentieren lassen. Und sie dokumentiert weiter, was Menschen in verschiedenen Gesellschaften als Naturheilmittel nutzen. Sörgel hält das für einen guten Ansatz. "Zu sagen, wir gehen jetzt noch mal ins Pflanzenreich und untersuchen, was wir dort finden, ist sicher gerechtfertigt", sagt er. "Und dann ist es ein guter Ansatz, diese traditionellen Rezepturen zu untersuchen."

Quave hofft, ein Extrakt aus dem Pfefferbaum bald an Menschen testen zu können. Zunächst möchte sie versuchen, damit Neurodermitis zu behandeln. Die Erkrankung zeichnet sich auch dadurch aus, dass die betroffenen Hautstellen von einer hohen Zahl von Staphylococcus aureus besiedelt sind. Die Bakterien dringen in die Haut ein und produzieren Giftstoffe, die die Entzündung verschlimmern und die Hautbarriere weiter zersetzen. "Wenn wir die Bakterien daran hindern, diese Toxine auszuschütten, gibt das der Haut eine Chance zu regenerieren und es erlaubt gleichzeitig anderen, harmlosen Bakterien Staphylococcus aureus zu verdrängen", sagt Quave. Sollte das gelingen, wäre es ein erster kleiner Sieg gegen das Bakterium.

Und selbst wenn am Ende kein Wundermittel im Herbarium schlummert, haben die Pflanzen dort noch einen anderen Nutzen. Quave nutzt sie im Unterricht, um ihren Studenten die Augen zu öffnen für die Pflanzen um sie herum. "Die meisten von ihnen schauen sich überhaupt nicht um, wenn sie draußen sind", sagt Quave. "Die starren auf ihre Handys und bekommen von der Umwelt nichts mit."

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