China:Aus heiterem Himmel in die Zwangsjacke

"Wie ein Tier gefühlt": Zou Yijun wurde nach einem Streit mit ihrer Mutter zwangsweise in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen - obwohl sie geistig völlig gesund ist.

Henrik Bork

Aus heiterem Himmel überfallen, mit Handschellen in einen Krankenwagen gestoßen, mit Spritzen ruhiggestellt, in einer psychiatrischen Anstalt aufgewacht. "Ich dachte zuerst, ich sei gekidnappt worden", sagte Zou Yijun später. Nach einem Streit mit ihrer Mutter war sie zwangsweise eingewiesen worden, obwohl sie geistig völlig gesund ist.

China: Vor der Universität von Peking fordern Chinesen eine Entschuldigung von einem Psychiater, der sie für geisteskrank erklärt hatte.

Vor der Universität von Peking fordern Chinesen eine Entschuldigung von einem Psychiater, der sie für geisteskrank erklärt hatte.

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Sie erlebte Szenen wie aus dem Film "Einer flog über das Kuckucksnest". Mit Hilfe einer befreundeten Anwältin wieder entkommen, hat die 30-jährige Chinesin nun zwei psychiatrische Anstalten und ihre Familie verklagt. Und hat nebenbei die erste öffentliche Debatte über den Zustand der Psychiatrie in China ausgelöst.

Am 21. Oktober 2006 hatte die junge Frau wie immer ihr Haus verlassen, die Zeitungen aus dem Briefkasten gezogen und zum Abschied freundlich den Wachmann gegrüßt. Sie war mit ihrem Bruder verabredet, um das Grab ihres Vaters zu besuchen. Doch am Eingang zum Friedhof wartete der von der Familie bestellte Krankenwagen. Mit einer Krawatte verband man ihr die Augen. Jemand riss ihr die Hose herunter und rammte ihr die erste Injektionsnadel ins Fleisch. Als sie wieder aufwachte, befand sie sich in der psychiatrischen Anstalt "Weiße Wolke" in Guangzhou.

"Sie brüllten vor allem, weil ihnen so kalt war"

Die Familie hatte totale Isolation gefordert. Die Ärzte nahmen Zou sofort das Handy ab. "Je mehr sie protestierte, desto mehr galt sie als verrückt", schrieb die chinesische Zeitschrift Xinwen Zhoukan. Was die Familie und die Anstalt nicht ahnten, war, dass Zou Yijun eine Vorahnung gehabt hatte. Ihre Mutter hatte sich mit ihr um 300.000 Yuan (etwa 35.000 Euro) gestritten. Zou hatte eine Anwältin bevollmächtigt, "bei unvorhergesehen Vorkommnissen" in ihrem Interesse zu ermitteln.

Was die 30-jährige Anwältin Huang Xuetao dann auf ihrer Suche nach ihrer Freundin erlebte, das wird derzeit in chinesischen Zeitungen und Zeitschriften ausführlich debattiert und jagt Millionen Chinesen kalte Schauer den Rücken herunter. "Sie ließen mich nicht ein", sagt Huang. "Geistig Behinderte haben noch weniger Rechte als Gefängnisinsassen. Heute lacht dich ein Mensch an, morgen ist er wie vom Erdboden verschluckt und zum Idioten erklärt worden", sagt sie.

Zou Yijun, sie war inzwischen in das "Anlegersee-Krankenhaus" bei Guangzhou verlegt worden, hörte drinnen täglich die gellenden Schreie anderer Insassen. "Sie brüllten vor allem, weil ihnen so kalt war", sagte Zou später. Die für 320 Patienten ausgelegte Psychiatrie war mit 760 Insassen restlos überfüllt. Es stank. In den Gemeinschaftsduschen war "alles voller Kot und Urin". Zou und die anderen Patienten wurden keine Sekunde aus den Augen gelassen.

Die Schwestern aber waren jung und kräftig. Sie duldeten keinen Widerstand. "Du musst alles tun, was die Ärzte dir sagen. Nur wenn du deine Krankheit zugibst, kannst du wieder herauskommen", sagte ihr die Anwältin, als Zou sich endlich heimlich ein Handy leihen und sie anrufen konnte. Zou Yijun schrieb später in ihr Tagebuch, sie habe sich "wie ein Tier gefühlt". Erst als sie auf Drängen der Anwältin für einen Familienbesuch entlassen wurde, als die Mutter sie zu Hause einsperren wollte, konnte Zou fliehen. Vor einigen Wochen hat sie nun die zwei Anstalten und ihre Familie verklagt.

Sturm der Entrüstung

Der Fall hat eine ungewöhnlich hitzige Debatte über eine der dunkelsten Seiten des chinesischen Gesundheitswesens ausgelöst. Psychiater, Sozialwissenschaftler und sogar kommunistische Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses fordern nun ein Psychiatrie-Gesetz. "Solange erzwungene Einweisungen nicht klar gesetzlich geregelt sind, kann jeder von uns von einem Tag zum anderen zum Insassen einer Anstalt werden", zitiert die Zeitung Südliches Wochenende die Anwältin Huang.

Was die Debatte zusätzlich politisch brisant macht, in China jedoch nicht öffentlich besprochen werden darf, sind die in China recht häufigen Zwangseinweisungen von Dissidenten in die Psychiatrie. In den vergangenen Jahren, so haben Menschenrechtler dokumentiert, sind immer häufiger auch Bittsteller in Zwangsjacken gesteckt worden, die bei den Behörden gegen erlittenes Unrecht protestierten.

"99 Prozent dieser Bittsteller" seien doch geisteskrank und gehörten in eine geschlossene Anstalt, wurde der Psychiatrieprofessor Sun Dongdong der Peking-Universität in der Zeitschrift Xinwen Zhoukan zitiert. Diese Aussage rief einen Sturm der Entrüstung hervor. Im Internet wird gefordert, Sun die Approbation zu entziehen. Vor zwei Wochen demonstrierten mehrere hundert Bittsteller aus der Provinz, die sich von dem Professor verunglimpft fühlten, vor der Universität. Sun musste sich öffentlich entschuldigen.

Zou Yijun hat sich inzwischen ihre langen schwarzen Haare abrasiert und ist in ein buddhistisches Kloster in Peking eingetreten. Das Urteil im von ihr angestrengten Prozess steht noch aus.

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