Medizin:Der Mensch, ein Tier

Medizin: Zwar gibt es gewisse anatomische Unterschiede zwischen Tieren und Menschen, lehrreich ist ein Vergleich trotzdem.

Zwar gibt es gewisse anatomische Unterschiede zwischen Tieren und Menschen, lehrreich ist ein Vergleich trotzdem.

(Foto: Stephan Rumpf)
  • Hunde leben ähnlich wie ihre Menschen und leiden unter ähnlichen Krankheiten. Das gilt auch für andere Tierarten.
  • Würde die Humanmedizin die Erfahrungen und Studien aus der Tiermedizin hinzuziehen, hätte man einen viel besseren Überblick über die Wirkmechanismen eines Stoffes.
  • "One Health" ist das Motto der Idee, die Gesundheit für Mensch und Tier verspricht

Von Judith Blage

Popeye hat offensichtlich ein Problem. Einmal von der Leine gelassen, rumpelt der blonde Schönling durch das Behandlungszimmer, um jedem Menschen im Raum seine Freude über dessen Anwesenheit zu demonstrieren. Doch kaum hat der junge Labradorrüde das erledigt, ist seine Schnauze schon wieder am Boden. Seinen dicken Schädel dreht er wie eine Bürste in einer Waschanlage hin und her. Sein Frauchen fühlt mit ihm: "Er kratzt sich schon so lange wie verrückt."

Kurze Zeit später liegt Popeye unter Narkose auf dem Behandlungstisch. Die linke Bauchseite ist rasiert, winzige Knubbel erscheinen auf der blassrosa Haut. Die Dermatologen der veterinärmedizinischen Universität Wien wenden einen Hauttest an, um herauszufinden, gegen was Popeye allergisch ist. "Immer mehr Hunde entwickeln Allergien. Popeye ist auch noch blond, helle Hunde haben eine stärkere Neigung dazu. Genau wie bei den Menschen", sagt die Immunologin und Allergologin Erika Jensen-Jarolim.

Ein Knubbel auf Popeyes Bauch schwillt indes zu einem roten Hügel in Backerbsengröße. Alles klar: Popeye hat eine Allergie gegen Hausstaubmilben - und vielleicht noch gegen Gräser. Popeyes Beschwerden gleichen denen eines menschlichen Allergikers, Diagnose und sogar die Therapie verlaufen genauso wie ein einer humanmedizinischen Praxis. Später wird Popeye eine Hyposensibilisierung erhalten.

Was die Gesundheit angeht, sind sich Mensch und Tier häufig näher als man denkt: Es gibt Dickhornschafe, die ein Suchtproblem mit Mohnpflanzen haben, sich selbst verletzende Katzen, Seeotter in Pubertätskrisen und Golden Retriever mit Brustkrebs. Dass solche Parallelen existieren, ist nichts Neues. Doch wurde bislang kaum ihr Potenzial gesehen. Viele Krankheitsbilder beim Menschen könnten nämlich schneller und billiger erforscht werden, wenn einbezogen werden würde, was in der Veterinärmedizin bereits über das tierische Pendant bekannt ist. Umgekehrt könnten Tiere von den bestehenden Therapien der Humanmedizin profitieren. Und manchmal wäre es sinnvoll, wenn man sich gleichzeitig um die Gesundheit von Mensch und Tier kümmert, etwa wenn Seuchen die Artgrenzen überspringen.

Doch wagen erst einige Forscher den speziesübergreifenden Blick. So etwa bei Popeyes Untersuchung, an der auch eine Humanmedizinerin beteiligt ist: Erika Jensen-Jarolim, Professorin für Vergleichende Medizin am Messerli Institut für Mensch-Tier-Beziehungen Wien. Ihre Professur ist gleichzeitig an zwei Standorten angesiedelt: An der medizinischen Universität sowie an der veterinärmedizinischen Universität Wien - in der akademischen Welt eine Ungeheuerlichkeit.

Jensen-Jarolim forscht zum Thema Immunonkologie, der Schnittstelle zwischen Allergologie und Krebsforschung. Sie will herausfinden, wie man das Immunsystem gegen die Krebszellen mobilisieren kann. Das klappt bislang bereits etwa bei Lungenkrebs und schwarzem Hautkrebs. In anderen Fällen gibt es noch viele Nebenwirkungen oder die Therapie spricht nicht an. Jensen-Jarolim hat nun einen Antikörper aus der menschlichen Immunonkologie für Hunde umgewidmet, so dass er für sie verträglich ist. "Die Vorteile für beide Spezies liegen auf der Hand", erklärt sie. "Mit diesem Antikörper kann man eine moderne Krebstherapie für Hunde entwickeln, die davon enorm profitieren würden - jeder zweite Hund entwickelt ab dem zehnten Lebensjahr eine Krebserkrankung. Und gleichzeitig können wir aus der Erfahrung mit Hunden aussagekräftige Daten sammeln und erfahren, wie wir ihn am besten für Menschen anwenden können."

"Es gibt keine Standardmenschen"

Mit diesem Ansatz umgeht sie zugleich ein Dilemma der herkömmlichen Entwicklung von Medikamenten: Sie müssen mit standardisierten Versuchen an standardisierten Tieren getestet werden. In der Regel sind das genetisch angepasste Ratten und Mäuse. "Dabei gibt es keine Standardmenschen", sagt der Evolutionsbiologe Josef Reichholf. "Menschen weltweit sind sehr unterschiedlich, das hat zum Beispiel einen Einfluss auf die Art, wie Medikamente wirken und vertragen werden. Deshalb erfährt man von vielen Nebenwirkungen oft erst, wenn Wirkstoffe schon längere Zeit zugelassen sind, sozusagen nach Langzeitstudien an Menschen."

Wenn die humanmedizinische Forschung die wissenschaftlichen Daten, Erfahrungen und Studien aus der Tiermedizin hinzuziehen würde, hätte man von vornherein einen viel besseren Überblick über die Wirkmechanismen eines Stoffes in verschiedenen Organismen mit verschiedenen genetischen Grundlagen. Gleichzeitig sind sich Tier und Mensch in grundsätzlichen Dingen sehr ähnlich: "Viele Mechanismen unseres Körpers sind weit älter als unsere Spezies. Sie gehen bis auf gemeinsame Vorfahren zurück, von denen alle Säugetiere abstammen." Zum Beispiel seien Infektionskrankheiten so alt, dass die Abwehrsysteme des Körpers in den meisten Säugetieren sehr ähnlich seien. "Wir sind eben auch Tiere - nur etwa ein Prozent unserer Gene trennt uns von unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen", sagt Reichholf.

Hinzu kommt, dass die in der Forschung als Modellorganismen genutzten Ratten, Mäuse und andere Nager den Menschen biologisch weder besonders ähnlich sind, noch unter ähnlichen Bedingungen leben. Dabei beeinflussen äußere Faktoren wie Umwelt, Ernährung und Bewegung die Entwicklung einer Krankheit in hohem Maße. Hunde hingegen sind den gleichen Einflüssen wie ihre Menschen ausgesetzt: Sie leben mit im Haus, bewegen sich ähnlich viel in der gleichen Umgebung und werden oft genauso dick. Sie sind weit komplexere Säugetiere als Mäuse und bekommen die gleichen Krebsarten und Allergien wie Menschen. Doch bei der Erforschung einer Krankheit wirft in der Regel kein Humanarzt je einen Blick auf die Erkenntnisse der Veterinärmedizin - und umgekehrt.

Der Graben zwischen Tier- und Humanmedizin ist ein modernes Phänomen

Evolutionsbiologe Reichholf hält diesen Graben zwischen tierischer und menschlicher Welt für künstlich und für eine Verschwendung von Ressourcen. "Wissenschaftliche Daten von Tieren, die Menschen ähnlicher sind als Labormäuse, existieren ja längst: in der Tiermedizin oder der Wildtierbiologie. Doch statt sie zu nutzen und daraus für Menschen zu lernen, traktieren wir massenweise Labormäuse."

Obwohl die Vorteile eines interdisziplinären Austausches offensichtlich sind, ist die Wiener Allergologin Erika Jensen-Jarolim mit ihrem Ansatz auf Widerstand gestoßen. "Wir dachten zuerst: Wir können durchstarten mit dem gleichen Medikament für Hund und Herrl, das ist eigentlich für jeden einleuchtend." Mitnichten. Die Beziehung zwischen Human- und Veterinärmedizin ist konfliktbeladen. "Es wird noch viel zu sehr in Hierarchien gedacht", sagt Jensen-Jarolim. Ärzte sähen sich in der Regel weit über einem Veterinärmediziner stehend und würden sich für die Tiermedizin so gut wie gar nicht interessieren. Und auch die Tiermediziner seien noch nicht bereit zum Austausch, sie hätten passend dazu einen Minderwertigkeitskomplex. So scheiterte ihr Antikörper gegen Krebs zunächst, die europäische Pharmaindustrie war nicht interessiert. Erst das National Cancer Institute in den USA, interessierte sich brennend dafür. Dort laufen derzeit erste Studien mit ganz normalen Haushunden.

In den USA haben viele Wissenschaftler das Potenzial der Zusammenarbeit schon längst erkannt: Seit 2010 hat sich eine Gemeinschaft von Veterinär- und Humanmedizinern unter dem Namen "Zoobiquity" formiert. Mehrere Lehrstühle mit dem Titel Comparative Medicine (Vergleichende Medizin) sind entstanden. Der Name der Bewegung ist eine Zusammensetzung aus dem griechischen Begriff für Tier "zo" und Lateinisch für überall "ubique". Also in etwa: Das Tier ist überall.

Die Kardiologin Barbara Natterson-Horowitz von der University of California hat mit einem 2012 zum Thema erschienenen Buch zu einer gewissen Popularität dieser Idee beigetragen. Auf die Idee kam sie, als sie im Frühjahr 2005 in den kalifornischen Zoo gerufen wurde. Ein Routineeinsatz: Wenn wertvolle Wildtiere an komplizierten Krankheiten leiden, greifen die Zoos gern auf Spezialisten aus der Humanmedizin zurück. Mit ihrer Visite bei einem herzkranken Kaiserschnurrbarttamarin, einem kleinen Primaten, begann diesmal für die Ärztin eine Reise ins Dickicht veterinärmedizinischer Forschungsergebnisse.

Der Zootierarzt bat sie damals beiläufig, das Äffchen nicht direkt anzusehen, es könne sonst eine "Fangmyopathie" erleiden. So bezeichnet man den plötzlichen Herztod eines Tieres, ausgelöst durch schweren Stress, etwa beim Einfangen. Natterson-Horowitz fühlte sich sofort erinnert an die Takotsubo-Kardiomyopathie. Dieses Phänomen ist bei Menschen erst seit Anfang des Jahrtausends bekannt.

Betroffene haben beispielsweise einen geliebten Menschen sterben sehen oder sind vor dem Traualtar verlassen worden. Ähnlich wie bei einem Äffchen, das sich in einer ausweglosen Situation wiederfindet, lösen auch hier extreme Emotionen die Herzsymptome aus. "Wie ein Blitz traf mich die Erkenntnis, dass Takotsubo bei Menschen und die Herzveränderungen bei der Fangmyopathie höchstwahrscheinlich etwas miteinander zu tun hatten - wahrscheinlich handelte es sich sogar um ein und dasselbe Syndrom mit unterschiedlichem Namen", schreibt die Kardiologin.

Sie staunte: "Seit mindestens 40 Jahren wissen Tierärzte, dass extreme Furcht bei Tieren Schäden am Herzmuskel hervorrufen kann." Sie lernten schon in der Grundausbildung, welche Vorkehrungen man dagegen treffen müsse. "Auf der anderen Seite stehen die Humanmediziner, die sich Anfang der 2000er Jahre mit einer exotischen Erkenntnis brüsteten, die jedem Veterinärmediziner seit dem ersten Studienjahr vertraut ist."

Noch vor 100 Jahren kümmerte sich ein Landarzt häufig gleichermaßen um Menschen und Tiere

Von da an machte es sich Natterson-Horowitz zur Aufgabe, die Diagnosen der Humanmedizin in veterinärmedizinischen Publikationen nachzuschlagen. In ihrem Buch hat sie etliche Fälle zusammengetragen, bei denen es für ein menschliches Gesundheitsproblem ein Pendant in der Tierwelt gibt. Darunter sind die großen Volkskrankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes, Krebs und Herzinfarkt, aber auch spezielle Erkrankungen wie Ess- und Verhaltensstörungen.

Dabei ist der Graben zwischen Tier- und Humanmedizin ein modernes Phänomen. Noch vor 100 Jahren kümmerte sich ein Landarzt häufig gleichermaßen um Menschen und Tiere, auf dem Land noch vor 50 Jahren. Von Rudolf Virchow, dem Vater der modernen Pathologie, ist bekannt, dass er energisch die Auffassung vertrat "dass zwischen Thier- und Menschenarzneikunde wissenschaftlich keine Scheidegrenze ist".

Welche Vorteile aus einer Verbindung der beiden Disziplinen erwachsen, zeigt der Veterinär Jakob Zinsstag vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut, der von "One Health" spricht, also "einer Gesundheit" für Mensch und Tier. Er hatte bereits vor Jahrzehnten in einer Feldstudie im Tschad festgestellt, dass die Kühe der Nomadengemeinschaften geimpft waren, die Kinder jedoch nicht. Also hat er einen gemeinsamen Impfdienst auf die Beine gestellt, der sich Transport und Kühlkette teilt.

In einem anderen Projekt konnten Zinsstag und seine Mitstreiter mit Hilfe eines mathematischen Modells beweisen, dass eine zunächst aufwendig erscheinende Massenimpfung der Straßenhunde gegen Tollwut kostengünstiger und wirksamer ist, als wenn einfach nur erkrankte Menschen behandelt und alle Hunde getötet werden. Das sind einfache Beispiele, die sich auf westliche Gesundheitssysteme übertragen lassen. "Eine Kooperation zwischen den beiden Disziplinen führt nicht nur zu mehr Gesundheit bei Mensch und Tier, sie spart auch noch viel Geld", sagt Zinsstag. Die Weltbank schätzt die möglichen Einsparungen durch One Health weltweit auf mindestens sechs Milliarden Dollar pro Jahr.

Antibiotika-Resistenzen entwickeln sich auch in den Ställen von Nutztieren

Auch in Europa gibt es Potenzial. So berichtet Zinsstag über einen Brucellose-Ausbruch in den Niederlanden vor einigen Jahren. Rinder und Schweine hatten die Infektionskrankheit auf Menschen übertragen. Die Humanärzte dort waren überhaupt nicht vorbereitet, obwohl die Veterinärmediziner schon längst Bescheid wussten.

Wenn jeder Gesundheitssektor in Echtzeit über das gesamte Vorkommen an meldepflichtigen Infektionskrankheiten informiert würde, könnten rascher Maßnahmen getroffen werden. "Ein weiterer Ansatz sind miteinander gekoppelte Krebsregister, da Auslöser sowohl Menschen wie Tiere betreffen und damit vielleicht schneller identifiziert werden könnten. So wissen wir, dass Heimtiere von Rauchern ebenso einem höheren Lungenkrebsrisiko ausgesetzt sind." Ähnlich hilfreich wär ein speziesübergreifende Register zu Antibiotikaresistenzen, die sich ja auch in Nutztierställen entwickeln.

Kanada hat One Health bislang am weitesten umgesetzt: Alle Untersuchungen von hoch ansteckenden Krankheiten bei Mensch und Tier werden in einem einzigen Labor durchgeführt. Das Gesundheitssystem hat eine einheitliche Überwachung für Antibiotikaresistenzen und Durchfallerreger bei Mensch und Tier aufgebaut.

Zinsstags Vision geht aber noch weiter: "Die Erhaltung der Gesundheit kann sich nicht nur auf Tiere und Menschen beschränken, sondern muss die Ökosysteme, also zum Beispiel Faktoren wie Luftverschmutzung, Klimaerwärmung und Bodenfruchtbarkeit miteinschließen." One Health sieht er nur als einen Teilbereich von EcoHealth, einer Art universalem Gesundheitssystem. "Alles hängt mit allem zusammen", sagt er. "Eigentlich wissen wir das doch schon längst."

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