Zugstrecke in China:Ein halber Kontinent in neun Stunden 

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  • Der Hochgeschwindigkeitszug Fuxing bewältigt die 2230 Kilometer zwischen Peking und Hongkong in nur neun Stunden.
  • Der Zug ist ein Prestigeobjekt der kommunistischen Regierung in Peking.
  • In Hongkong fürchten einige jetzt umso mehr um die Autonomie der ehemaligen britischen Kronkolonie.

Von Kai Strittmatter

Mehr als nur ein Zug. "Der Stolz der Nation" ( Global Times). "Schnell wie eine Kugel" ( China Daily). Die Nummer eins der Welt. 350 Kilometer in der Stunde. Einen Namen trägt er auch: Fuxing, was sich übersetzen lässt als Erwachen, Erneuerung oder Wiedergeburt. Wiedergeboren werden soll die Nation, der Parteichef hat es ihr versprochen, in seinem "Chinesischen Traum". Chinas Hochgeschwindigkeitszüge machen schon mal vor, wie man eindrücklich träumt. Von Peking nach Shanghai seit ein paar Jahren schon in knapp vier Stunden. Bäng. Und jetzt, ganz neu: von Peking nach Hongkong. Von Rand der Wüste Gobi bis ans Südchinesische Meer. 2230 Kilometer. Ein halber Kontinent, durchquert in neun Stunden.

"Lihaile wo guo", "Stark unser Land!": Solche Aufkleber schmücken manche Waggons. Steig ein, tanke Stolz und Patriotismus. Gerade, wenn du zu den Bürgern Hongkongs fährst, die können eine Portion davon gebrauchen. Das zeigte sich am Tag der Jungfernfahrt, Sonntag vor zwei Wochen. Ein paar Hongkonger empfingen die neuen Züge bei der Ankunft mit Bannern, auf denen standen Worte wie "Schande" und "Verrat".

Ein paar Tage später in Peking, Punkt zehn Uhr morgens. Der G79 rollt los. Fräulein Chen, die Zugbegleiterin, ist von ausgesuchter Höflichkeit ("Ach, aus Deutschland? Sie haben dort eine ganz tolle Eisenbahn, der Service soll fantastisch sein") und müht sich so aufopferungsvoll wie vergeblich mit unserem Koffer ab, Übergröße. Sie versteht sie nicht, die Hongkonger. Freuen die sich gar nicht? "Unsere Züge bringen Fortschritt und Entwicklung, wo immer ein neuer Bahnhof aufmacht im Land." Sie war im Frühjahr mal privat in Hongkong. War nix, unterm Strich, sagt sie: "Ist mir zu schnell, die Stadt. Alle ständig im Laufschritt." Sie macht eine Pause: "Sie mögen uns Festlandchinesen nicht. Sie schauen auf uns herab. Es gibt da ..." Sie sucht nach einem Wort: " ... Widersprüche zwischen uns." Die gibt es tatsächlich.

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Die Züge sind ein kleines Wunder, wenn auch kein ganz so rein chinesisches, wie es die Regierung einem weismachen möchte. Da steckt noch einiges an deutscher und japanischer Technik drin. Aber der Wille zum großen Wurf, der ist ein chinesischer. Und das Tempo des Ausbaus. Gerade mal zehn Jahre ist es her, da fuhr der erste der schnellen Züge. Von Peking nach Tianjin, 120 Kilometer in 30 Minuten. Jetzt, ein Jahrzehnt später, überzieht das größte Hochgeschwindigkeitsnetz der Welt das Land. Mehr als 26 000 Kilometer waren es Anfang dieses Jahres schon. In den nächsten sieben Jahren sollen noch einmal mehr als 10 000 Kilometer dazukommen.

Die Vision hat ihren Preis: Das Eisenbahnamt sitzt heute schon auf umgerechnet mehr als 700 Milliarden Dollar Schulden, die Strecke Peking-Shanghai ist eine der wenigen, die Geld abwirft. Aber im ganzen Land sind gewaltige neue Bahnhöfe entstanden, Hunderte, nicht wenige im bis dahin vergessenen Hinterland, und um jeden dieser Bahnhöfe herum wuchsen scheinbar über Nacht neue Städte.

Keiner dieser neuen Bahnhöfe aber war so mit Bedeutung aufgeladen, um keinen wurde so gestritten wie um den von Hongkong. Ein kleines Wunder auch, dass er da jetzt steht. Für die 26 000 Kilometer Eisenbahnnetz, die China überziehen, brauchten die Planer zehn Jahre - für die 26 Kilometer vom chinesischen Shenzhen über die Grenze, mitten hinein ins Herz Kowloons brauchten sie am Ende fast so lange: acht Jahre. Die Hongkonger zierten sich.

Am mangelnden Komfort lag es nicht. Abfertigungshallen wie am Flughafen, USB-Stecker am Sitz, Wlan im Zug. Das Zugfahren in China ist im 21. Jahrhundert angekommen. Keine Spucknäpfe mehr, keine Sonnenblumenkernschalen am Boden. Die Leute rauchen nicht mehr. Das heißt: Wenn der Zug in einen Bahnhof einfährt, dann stürzt jeweils eine Handvoll Passagiere, Männer meist, nach draußen und inhaliert gierig die nötige Dosis Nikotin. Wer drin beim Rauchen erwischt wird, beim Randalieren oder beim Schwarzfahren, dem droht die Höchststrafe. "Sie werden belangt im Rahmen des Sozialkreditsystems", mahnt die sanfte Stimme der Ansagerin: Das System soll das Verhalten der Bürger überwachen, bei Fehlverhalten drohen satte Minuspunkte, die einen auf die schwarze Liste bringen können. Die empfindlichste Strafe bislang: Missetäter dürfen nicht mehr fliegen, außerdem werden ihnen keine Tickets mehr für die schönen Schnellzüge verkauft.

Auch das Geschnatter und Gelächter der Zugfahrten von einst ist Vergangenheit: In den neuen Zügen tun es die Chinesen den Menschen im Westen gleich - sie sprechen nicht mehr miteinander. Versinken in ihren Sesseln und starren auf ihre Handys, der Sitznachbar schaut TV-Soaps, in denen erstaunlich oft schmollende Frauen Blumensträuße auf den Boden knallen.

Auf die Zug-Bildschirme starren sie eher selten. Die informieren nonstop über das segensreiche Wirken der Kommunistischen Partei: Parteikader opfern sich dort auf fürs Wohlergehen des Volkes; Cartoonfiguren wischen mit einem Mopp das schmutzige Internet sauber und tanzen dann vor Freude Ringelreihen (ein Beitrag des "Nationalen Amtes für die Auslöschung von Pornografie und illegalen Publikationen"); prominente Schauspieler erklären den Hongkong-Besuchern, wie man "zivilisiert reist": Man brüllt am besten nicht herum, man drängelt sich nicht vor, und Abfall wirft man in die Mülltonne. Kurz vor Ankunft singt eine Gruppe uniformierter Eisenbahner einen Schlager, das "Hochgeschwindigkeits-Zug-Lied": "Wir versprechen einen tollen Service / die Eisenbahn ebnet den Weg ins Morgen / in die Zukunft eines starken China". Beim Vers "Wir geben uns niemals geschlagen!" hüpfen alle in die Luft.

Dann fährt der Zug ein in den Bahnhof "Kowloon West". 18.58 Uhr. Auf die Minute pünktlich. Um diesen Bahnhof vor allem haben sie gestritten. Um die 105 000 Quadratmeter, die Hongkong mit einem Mal kleiner geworden ist - und Festland-China größer. Denn China hat seine eigenen Grenz- und Sicherheitsbeamten hier im Bahnhof von Hongkong stationiert, für die Grenzabfertigung der Passagiere, hat sich so einen Flecken eigenen Territoriums im Herzen der Stadt gesichert. Vor allem: China hat sich ausbedungen, dass auf diesen 105 000 Quadratmetern von nun an ausschließlich chinesisches Recht gilt.

Der Bahnhof Kowloon West in Hongkong: Vor allem um diesen Ort haben sie gestritten - um die 105 000 Quadratmeter, die die Sonderverwaltungszone mit einem Mal kleiner geworden ist. (Foto: Justin Chin/Bloomberg)

In der Stadt war die Aufregung groß, die Bürger der ehemaligen britischen Kronkolonie fürchten ohnehin um die ihnen bei der Rückkehr nach China 1997 versprochene Autonomie, sie sehen ihre Freiheiten bedroht durch die zunehmende Einmischung Pekings. "Es ist eine Frage des Vertrauens", sagt Chung Kim Wah, ein Soziologieprofessor. "Und Peking hat einfach zu viel Vertrauen verspielt in den letzten zwanzig Jahren." Der Hongkonger Anwaltsverein nannte die Landnahme in Kowloon einen "irreparablen Bruch" des Grundgesetzes der Stadt, weil das "Basic Law" chinesischen Sicherheitsbeamten die Arbeit in Hongkong verbietet. "Der Bauch des Bahnhofs ist ihr trojanisches Pferd", sagt Claudia Mo, eine Hongkonger Parlamentsabgeordnete aus dem demokratischen Lager.

Hongkongs Regierung hat die Befürchtungen als Unsinn bezeichnet und auch die Aufregung um die gewaltigen Kosten von umgerechnet fast 10 Milliarden Euro für die 26 Kilometer Bahnstrecke auf Hongkonger Seite beiseite gewischt: "Am wichtigsten ist die Verbindung zwischen den Menschen", sagte Regierungschefin Carrie Lam. Sie hoffe, dass die Hongkonger nun mehr Bahnreisen nach China unternähmen, "um die Kultur und die Entwicklung der chinesischen Städte zu verstehen." Das Ziel sei klar, sagt Claudia Mo: Peking wolle aus dem unbequemen Hongkong so schnell wie möglich eine chinesische Stadt machen wie alle anderen auch. "Hongkong und das chinesische Hinterland sollen verschmelzen zu einer wirtschaftlichen und am Ende auch politischen Einheit. Und die Eisenbahnlinie ist ihnen eine neue Nabelschnur, an der Hongkong nun hängen soll."

Am Ende hasten alle im ortsüblichen Tempo aus dem Bauch des Bahnhofs hoch ans Licht - und fast einem jeden widerfährt oben angekommen das Gleiche. Unvermittelt halten die Menschen inne im Lauf und im Atmen: vor ihnen die sich im nächtlichen Hafen spiegelnde Skyline Hongkongs. Nein, keine Stadt wie alle anderen. Noch nicht.

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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