Brexit:No Deal

Alle Verhandlungen mit London sind abgesagt bis Mittwochabend. Und mit echten Fortschritten ist auch beim EU-Gipfel in Brüssel nicht zu rechnen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Wenige Tage vor dem EU-Gipfel und Stunden nach dem vorübergehenden Kollaps der Brexit-Gespräche herrscht angespannte Ruhe. Da Michel Barnier, Chefunterhändler der Europäischen Union, keine öffentlichen Termine wahrnimmt und sein Twitter-Account schweigt, muss ein Sprecher der EU-Kommission alle Fragen mit höflicher Beharrlichkeit abwehren.

Der betont nur, dass es bis zum Arbeitsessen der 27 Staats- und Regierungschefs am Mittwoch keine offiziellen Gespräche mit London geben werde. Barnier wird von 19 Uhr an erläutern, wo man vorangekommen sei und wie weit beide Seiten anderswo auseinanderliegen. Die Planungen der Kommission für ein "No Deal"-Szenario, das am 30. März 2019 eintreten könnte, werden weitergeführt und intensiviert.

Dass der Sprecher keine Kommentare zu "Inhalt oder Atmosphäre" des sonntäglichen Treffens von Barnier und dem britischen Brexit-Minister Dominic Raab abgibt, überrascht nicht. Bekannt ist genug: 75 Minuten dauerte das Gespräch; es ging um einen Entwurf, auf den sich die Verhandlungsteams verständigt hatten, um die heikle Frage von Grenzkontrollen auf der irischen Insel zu lösen. Dies muss im Austrittsabkommen verbindlich geregelt werden; nachdem sich die Experten angenähert hatten, waren die Politiker am Zug. Und Raab, sicher nicht ohne Rücksprache mit Premierministerin Theresa May, lehnte den Vorschlag ab.

Brüssel hat Angst vor Dumping, die Brexiteers fürchten Bevormundung

Das Problem ist: Wenn es London nicht gelingt, sich vor Ablauf der bis Ende 2020 geltenden Übergangslösung mit der EU auf ein Freihandelsabkommen zu einigen, muss das EU-Mitglied Irland das zu Großbritannien gehörende Nordirland als Drittstaat behandeln. Um diese enorme Störung des Wirtschaftslebens zu verhindern und auch den Frieden auf der Insel zu stützen, soll Nordirland übergangsweise im europäischen Binnenmarkt verbleiben. Diese Auffanglösung ("backstop") wird ergänzt um den Vorschlag, dass für das ganze Vereinigte Königreich eine Zollunion mit der EU gelten soll. Aus Angst vor Dumping beharrt Brüssel darauf, dass alle regulatorischen Standards an der Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien eingehalten werden - was wiederum die Brexiteers als Bevormundung empfinden. London fordert auch, die "backstop"-Regelung zeitlich zu begrenzen.

EU-Diplomaten rätseln nun, ob dies alles nur Teil einer Inszenierung ist. Soll Hardlinern und Publikum auf der Insel klargemacht werden, dass May bis zur Schmerzgrenze verhandelt und vor harten Entscheidungen nicht zurückschreckt? Wie passt das zu den versöhnlichen Aussagen von Außenminister Jeremy Hunt? Der sprach in Luxemburg zwar von einer "schwierigen Phase", aber gab sich zuversichtlich, dass für die "ein oder zwei offenen Fragen" Lösungen möglich seien.

Und May sagte am Montag in London, eine Vereinbarung sei weiter machbar. "Die Kontur eines Deals" sei in den meisten Punkten sichtbar.

Die Einschätzung wird in Brüssel geteilt. Die eigene Position sei London bekannt; May müsse nun "politisch unangenehme Entscheidungen" treffen, die man ihr nicht abnehmen könne, so EU-Diplomaten. Nach dem Streit zwischen Barnier und Raab steht so gut wie fest, dass beim Gipfel kein Austrittsabkommen verabschiedet wird. Auch direkte Verhandlungen mit May wird es wohl nicht geben: Ein Szenario, wonach Barnier zwischen den 27 Staats- und Regierungschefs und May in einem separaten Raum pendelt, ist abwegig.

Offen ist auch, ob May die Einladung annimmt, vor dem Essen das Wort zu ergreifen. Die Chefs der EU-27 werden darüber beraten, ob Barnier für Gespräche mehr Spielraum erhält und wie man sich auf einen chaotischen Brexit vorbereitet. Ob ein Sondergipfel für November angesetzt wird, ist so offen wie dessen Fokus. Ein EU-Diplomat bringt folgende Variante ins Spiel: "Der Gipfel wird einberufen, das No-Deal-Szenario bestmöglich zu planen. Für den Fall, dass Großbritannien sich besinnt, könnte man die Tür offenhalten."

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