"Der Junge muss an die frische Luft" im Kino:Wenn das Testbild einfriert

Der Junge muss an die frische Luft

Das Talent zur Parodie entspringt bei Hans-Peter (Julius Weckauf) dem Wunsch, die Mutter zu erheitern.

(Foto: Warner)
  • Caroline Link hat Hape Kerkelings Autobiografie ganz wunderbar verfilmt.
  • Hans-Peter (toll: Julius Weckauf) ist darin der Wonneproppen der Familie, in der zwei Großmütter den Ton angeben.
  • "Der Junge muss an die frische Luft" schildert lustige und behütete Momente einer Kindheit, ist aber auch ein Porträt der ausgehenden Wirtschaftswunderzeit.

Von Martina Knoben

"Manchmal denke ich, ich hätte mich mehr anstrengen müssen", sagt der kindliche Erzähler. Ein Wirtschaftswundergedanke: dass man alles schaffen kann, wenn man sich nur hartnäckig genug bemüht. Dem jungen Hans-Peter (Julius Weckauf) hat diese Überzeugung der Opa vermittelt, der nach dem Krieg 300 Kilometer durch den Schlamm marschierte, um nach Hause zu kommen. Vielleicht hätte ich mich mehr anstrengen müssen ... Darin steckt auch die Lebenskatastrophe eines Jungen, aus dem der Komiker Hape Kerkeling werden wird. In der Autobiografie "Der Junge muss an die frische Luft" (2014) hat sich der Entertainer sein Trauma von der Seele geschrieben, den Suizid der Mutter, die nach einer verpfuschten OP unter Depressionen litt. Hape - damals Hans-Peter - war acht Jahre alt. Mit Parodien von Schlagerstars der TV-"Hitparade", kleinen Sketchen und Blödeleien hatte er versucht, sie aufzuheitern. Wer wissen wollte, wie der Erfinder von Hannilein, Horst Schlämmer und anderen Kunstfiguren zum großen Komiker wurde, erhielt hier eine überraschend ernste Auskunft.

Caroline Link hat dieses Buch nun ganz wunderbar verfilmt. Mit dem Debütanten Julius Weckauf hat sie einen großartigen Darsteller gefunden, der dem jungen Kerkeling nicht nur verblüffend ähnlich sieht, sondern ihn auch erstaunlich souverän spielt. Tieftraurige Momente sind es, wenn der kleine Hans-Peter verzweifelt singt und tanzt, sich Petersiliensträußchen hinter die Ohren steckt, um seine Mutter am Leben zu halten. Komplizierte Eltern-Kind-Beziehungen haben Link schon in ihren Filmen "Jenseits der Stille" (1996) oder "Nirgendwo in Afrika" (2001), für den sie den Oscar bekam, interessiert. In "Der Junge muss an die frische Luft" bleibt sie nah an der Vorlage. Dem aufgekratzt-quasseligen Ton des Buches, in dem Kerkeling sich seiner Kindheitskatastrophe annähern konnte, entspricht im Film eine ausgesprochene Fröhlichkeit, nicht nur der Farben. Es ist Buntheit der Siebziger, mit der die Regisseurin eine zunächst idyllische Ruhrpott-Kindheit heraufbeschwört.

Hans-Peter ist der Wonneproppen einer lebensfrohen Großfamilie, in der die Frauen den Ton angeben, vor allem zwei großartige Großmütter. "Wenne watt wills, machet einfach und kümmer dich nich drum, watt die Leute sagen", lehrt ihn seine eigenwillige "Omma" Änne (Hedi Kriegeskotte). Der Film feiert den Ruhrpott-Dialekt, der so direkt und pragmatisch klingt, wie es diese Familie ist. Nach dem Suizid der Mutter zögert Hapes zweite Oma Bertha (Ursula Werner) nur kurz, als sie gefragt wird, ob sie sich um die Kinder kümmern kann. "Morgen gibt es Rouladen", sagt sie später. Weil Hans-Peter die so gerne isst.

Dieser Film ist ein Porträt der ausgehenden Wirtschaftswunderzeit

Im Rückblick muten Biografien von Prominenten häufig seltsam zwangsläufig an, so auch hier. Jede Kleinigkeit im Durcheinander, das jede Gegenwart nun einmal ist, wird zum Indiz - etwa, wenn Hans-Peter im Karneval als Prinzessin geht oder gekonnt die Kunden in Oma Berthas Lebensmittelladen imitiert. Caroline Link erzählt aber nicht aus der Perspektive der Zukunft, sondern scheinbar ungebrochen aus der Kinderperspektive. Nur ganz am Ende begegnen sich der junge Hans-Peter und der echte, erwachsene Kerkeling. Das soll die Erzählung beglaubigen und ist natürlich Kitsch. Hier stört das aber nicht, weil Kerkelings Blick auf sein Kinder-Ich auch die Abgrenzung von seiner eigenen Geschichte signalisiert.

Der Film ist - mehr als das Buch - auch ein Porträt der ausgehenden Wirtschaftswunderzeit. Von der braunen Fanta-Flasche über die Luftschutzsirenen, die damals noch zur Übung heulten, stimmt jedes Detail. Link ist wie Kerkeling Jahrgang 1964, der Krieg lag da noch keine zwanzig Jahre zurück. Das Drehbuch von Ruth Toma deutet die Wunden des Krieges an, den Zwangsoptimismus der Überlebenden, den Preis des flotten Wiederaufbaus. Hans-Peters Vater etwa ist viel zu oft bei der Arbeit. Auch an dem Abend, als sie sich das Leben nimmt, ist die Mutter (mädchenhaft zart: Luise Heyer) allein. Zu Hans-Peter sagt sie, er dürfe so lange fernsehen, wie er wolle. Der ahnt, dass etwas nicht stimmt, hält aber durch bis zum Testbild. Danach sitzt er stundenlang wie erstarrt neben der Sterbenden im Bett.

Wie kann ein Kind nach einer solchen Erfahrung weiterleben? Eine Antwort liegt in der Familie, deren Mitglieder Caroline Link liebevoll porträtiert. So diskret sie die Erkrankung der Mutter schildert, so ausführlich die lustigen und behüteten Momente dieser Kindheit. Es sind filmische Miniaturen des heiter-resignativen "Trotzdem". So lässt sich auch die Komik Hape Kerkelings besser verstehen: Selbst wenn das Wichtigste im Leben schon verloren ist - der nächste Lacher kommt bestimmt.

Der Junge muss an die frische Luft, D 2018 - Regie: Caroline Link. Buch: Ruth Toma. Kamera: Judith Kaufmann. Schnitt: Simon Gstöttmayr. Mit Julius Weckauf, Luise Heyer, Sönke Möhring, Hedi Kriegeskotte, Joachim Król, Ursula Werner, Rudolf Kowalski. Verleih: Warner, 95 Minuten.

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