China:Mythen statt Wachstum

China: Neuer Personenkult mit alten Führern: Mao-Statue im Hinterhof einer Memorabilien-Fabrik im Südosten Chinas.

Neuer Personenkult mit alten Führern: Mao-Statue im Hinterhof einer Memorabilien-Fabrik im Südosten Chinas.

(Foto: Johannes Eisele/AFP)
  • China schafft eine schwierige Mondlandung, droht Taiwan und scheut nicht den Handelskrieg mit den USA. Das Land scheint vor Kraft zu strotzen.
  • Wirtschaftlich droht China jedoch eine Krise. Für den Herrschaftsanspruch der alleinregierenden KP ist das eine ernstzunehmende Gefahr.
  • Die Partei sucht deshalb neue Wege, sich Unterstützung im Volk zu sichern.

Von Lea Deuber

Was für ein phänomenaler Start ins neue Jahr. Als erste Nation hat China eine Sonde auf die Rückseite des Mondes befördert und sich so diese Woche in die technologische Super League katapultiert. Auch sonst verspricht 2019 ein Jahr der Superlative für das Land zu werden. Im Herbst feiert Peking den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik. Damit überholt der kommunistische Staat die frühere Sowjetunion, die 1991 kurz vor ihrem 69. Geburtstag über Nacht zusammenbrach.

Im Frühjahr jähren sich zudem die Proteste vom 4. Mai 1919, die zum Gründungsmythos des modernen Chinas geworden sind und in Peking als Wendepunkt der chinesischen Revolution gelten - hin zum Kommunismus. Das Land strotzt vor Kraft, so scheint es. Präsident Xi Jinping wird auch von westlichen Medien regelmäßig zum mächtigsten Mann des Planeten erklärt, und das 21. Jahrhundert gilt schon heute als das der Chinesen.

Ein Ökonom sagt, staatliche Eingriffe hätten China in eine Sackgasse manövriert

Soweit die Schlagzeilen. Denn hinter der glitzernden Fassade sieht es sehr viel schlechter aus. Das aggressive Auftreten Chinas hat im Ausland viel Skepsis hervorgerufen. Die USA und die EU erschweren chinesischen Firmen den Zugang zu heimischen Unternehmen. Der ist für die aufsteigende Wirtschaftsmacht aber wichtig, um an Technologie zu kommen. Washington setzt Peking zudem mit Strafzöllen unter Druck, um es für unfaire Marktbedingungen zu bestrafen. Das belastet die heimische Wirtschaft, die bereits unter massiven Schulden ächzt.

Im Dezember sagte Xiang Songzuo, renommierter Ökonom der Chinesischen Volksuniversität in Peking, statt der offiziellen 6,5 Prozent Wirtschaftswachstum für 2018 rechne er nur mit einem Zuwachs von 1,67 Prozent. In seiner öffentlichen Rede sagte Xiang weiter, die fehlende Rechtsstaatlichkeit, die zunehmenden staatlichen Eingriffe unter Präsident Xi und der Unwille zu Reformen hätten das Land in eine Sackgasse manövriert. Die Rede wurde sofort zensiert, aber trotzdem in vielen Foren im Land diskutiert. Sie zeigt, wie groß die Sorge über den Kurs Pekings ist.

Im Zentrum von Xis Politik steht der sogenannte chinesische Traum

Kommt es nun zu einer Wirtschaftskrise, und darauf deutet einiges hin, könnte das für die Partei gefährlich werden. Sie brauchte nie Wahlen, um ihre Herrschaft zu rechtfertigen, es reichte, dass der Staat stetig steigenden Lebensstandard garantierte. Ein Großteil der Chinesen profitierte davon und lebte gut mit diesem Kompromiss. Kann die Partei aber ihre Seite des Versprechens nicht mehr erfüllen, braucht es andere Mittel, um die Herrschaft zu rechtfertigen. Wie könnten die aussehen?

Auf der Suche nach einer neuen, sinnstiftenden Strategie setzt Präsident Xi Jinping wie keiner seiner Vorgänger seit Beginn der Öffnungspolitik Ende der 1970er-Jahre auf eine einheitliche nationale Ideologie. Im Zentrum dieser Politik steht der sogenannte chinesische Traum. Das Versprechen: Das Land soll wieder zu einer starken und wohlhabenden Weltmacht aufsteigen, die zum Mond fliegen kann und sich von keinem etwas vorschreiben lässt. Nicht von den USA, nicht von internationalen Organisationen - und erst recht nicht von einer kleinen Insel 160 Kilometer vor Chinas Küste namens Taiwan, die nach chinesischem Verständnis zum Vaterland gehört. Der Nationalismus ist in dieser Strategie das neue Opium fürs Volk. Eine Dominanz des chinesischen Volkes über die Welt wird als Korrektur einer kurzzeitigen historischen Anomalie dargelegt.

Gezielt werden zudem Krisen im Ausland wie der Brexit genutzt, um demokratische und offene Gesellschaften als unzulänglich vorzuführen. Orville Shell von der Asia Society in New York sagt, China praktiziere Nationalismus "besonders kunstvoll", um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Fenqing, übersetzt die zornige Jugend, werden die jungen Nationalisten in China genannt, die Boykotts und Proteste gegen ausländische Unternehmen anzetteln.

Xi unterwirft der Parteiherrschaft kompromisslos alles

Diese Strategie hat aber ihre Grenzen. Die Partei weiß, dass viele Nationalisten keine Parteipatrioten sind und sich der Ärger auch schnell gegen das eigene System richten kann. Die Widersprüche zwischen der marxistischen Staatsideologie und dem turbokapitalistischen Wirtschaftssystem sind offenkundig. Die Meinungen in China über den richtigen Kurs sind aber zudem sehr viel vielfältiger, als es von außen wirken mag.

Viele Menschen sehnen sich nach sozialer Gerechtigkeit, die durch das unkontrollierte Wachstum in der chinesischen Gesellschaft verloren gegangen ist. Andere fordern eine Rückbesinnung auf die Traditionen und Werte des alten China. Liberale Stimmen wiederum sehen allein im technologischen Vorsprung und der Modernisierung Chinas eine Chance, die globale Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu retten. Nichts davon lässt sich mit der etablierten Herrschaft der Partei in Einklang bringen.

Xis Politik unterscheidet sich zudem deutlich von der seiner Vorgänger. Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping löste sich einst vom dogmatischen Marxismus und betrieb Reformpolitik statt Klassenkampf. Er verhinderte den Zusammenbruch des politischen Systems, indem er Pragmatismus über Prinzip stellte. Xi hingegen ist ein strenger Dogmatiker, der der Parteiherrschaft kompromisslos alles unterwirft - auch die dringend notwendigen Wirtschaftsreformen.

Die Kluft zwischen der ideologischen Rhetorik der Kommunistischen Partei und der Realität des modernen Chinas wird dabei von Jahr zu Jahr größer. Die Produktion eines Zeichentrickfilms über das Leben des jungen Karl Marx untermauerte im vergangenen Jahr die Versuche Pekings, rund um seinen 200. Geburtstag dessen Lehren wiederzubeleben. In einer Rede anlässlich des Jahrestages nannte Xi ihn "einen der größten Denker der Menschheitsgeschichte". Der Marxismus werde für immer die "bestimmende Lehre" für die Partei bleiben. Marx' Geburtsstadt Trier erhielt zum Dank eine Bronzestatue.

Die Partei soll zu einem "heiligen Gegenstand der Anbetung" werden

Um die Bürger stärker an die Partei zu binden, karrt diese nun wieder Millionen Menschen für Dienstausflüge und Klassenfahrten an die alten Stätten der Revolution. Mehr als 50 Millionen Touristen reisten allein 2018 in die zentralchinesische Stadt Yan'an, die bis 1948 als militärisches Hauptquartier der KP diente. Frank Pieke von der Berliner Denkfabrik Merics sagt, mit den Pilgerfahrten versuche Peking, sich von einem unfehlbaren Träger ideologischer Dogmen zu einem "heiligen Gegenstand der Anbetung" zu entwickeln.

Das heißt, während im Schatten der Wolkenkratzer und internationalen Kaffeehausketten Schlagworte wie Marx und Kommunismus nicht mehr verfangen, soll die Herrschaft der Partei "natürlich, nicht hinterfragbar und zwangsläufig" werden, so wie in Europa die Demokratie. Zu der habe zwar hierzulande jeder eine Meinung. Ein anderes System sei aber kaum vorstellbar. So spinnt die Partei nicht nur an ihrem Mythos. Das ideologische Vakuum wird laut Pieke durch etwas Religionsartiges ersetzt, das weder Vertrauen noch Glauben in die kommunistische Doktrin erfordere.

Geschichte wird umgedeutet: Das Land wurde gedemütigt, ehe die KP kam

Um die autokratische Alleinherrschaft zu rechtfertigen, die in krassem Gegensatz zu westlichen Demokratien steht, betreibt China systematisch Geschichtsklitterung und erhebt den Einparteienstaat zu einem Gegenmodell: dem "chinesischen Sonderweg". Wie in allen totalitären Systemen strebt Peking auf diesem Wege danach, die Vergangenheit vor dessen Machtübernahme umzudeuten.

In Pekings Geschichtsschreibung wurde Chinas Kaiserreich als einstige Weltmacht von den ausländischen Mächten gedemütigt und erst 1949 durch die KP befreit. Die Zeit der Republikgründung Anfang des 20. Jahrhunderts, die Sinologen wie Frank Dikötter als "Ära der Offenheit" beschreiben, macht Peking zu einer Zeit des Chaos und der Dunkelheit. So verschmelzt Xi das Schicksal Chinas und den Wiederaufstieg der Nation unauflöslich mit der Herrschaft der Partei.

Doch reichen diese Mittel, wenn es tatsächlich wirtschaftlich nicht mehr vorwärtsgeht? Präsident Xi hat die Erfolge der vergangenen 40 Jahre bedingungslos an die Partei geknüpft. Möglicherweise zu eng. Weniger qualifizierte Arbeiter haben es durch die sich abkühlende Konjunktur bereits heute schwerer, einen Job zu finden. Viele fühlen sich abgehängt.

Die Partei hat zahlreiche Studenten verhaften lassen

Dazu kommt, dass auch die Unzufriedenheit in der Mittelschicht wächst. Hunderte Millionen Menschen sind seit der wirtschaftlichen Öffnung zu Wohlstand gekommen. Sie haben sich nicht nur an einen gestiegenen Lebensstandard gewöhnt, sondern auch an wachsende Freiheiten. Wer sich aus der Politik heraushielt, konnte das neue Leben mit all seinen Annehmlichkeiten genießen. Im Internet gab es alles zu lesen, alles zu kaufen - es gab noch kaum Zensur im Netz. Und während die Partei wegsah, fanden sich Menschen, die sich für mehr interessierten als für Geld: Sie gründeten Blogs, Vereine und Wohltätigkeitsverbände.

Unter Xi ist das vorbei. Pluralismus wird misstraut. Nichtregierungsorganisationen werden überwacht oder verboten, religiöse Organisationen verfolgt. Darin zeigt sich auch, dass Chinas Partei trotz ihrer Suche nach Ideologie und Sinn die wichtigste Überlebensstrategie nicht verändert hat, wie Chinakenner Richard McGregor schreibt: die absolute Kontrolle über Personal, den Propagandaapparat und die Volksbefreiungsarmee.

Das ruft Erinnerungen an einen weiteren großen Jahrestag 2019 wach: die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor 30 Jahren. Die Partei hat in Peking bereits die Kontrolle an den Unis verschärft und zahlreiche Studenten verhaften lassen, die sich für die Stärkung von Arbeiterrechten im Land engagiert hatten. Die Paranoia der Partei ist nie verschwunden. Der Zweifel an der eigene Stärke - er war in Peking nie weg.

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