Fotografie:Der Clown mit der Kamera

Vom Bauhaus in die Berliner Ausgehwelt und bis hin zu NS-Bauernmädchen: Das Sprengel-Museum in Hannover zeigt das erstaunlich vielfältige Werk des deutschen Fotografen Umbo.

Von Till Briegleb

Am Ende saß Umbo in einer Dachwohnung in Hannover zwischen Bommerlunder- und Bärenmarke-Kartons voll mit Zeugs, ein scheinbar glücklicher Messie nach einem erfüllten Leben, der keine Erinnerung wegschmeißen konnte. Warum auch? Was dieser Mann gesehen hat, war kostbar, vor allem durch die Linse. Er studierte am Bauhaus und arbeitete für Illustrierte im Dritten Reich, schlug den Bogen von der Berliner Boheme vor den Nazis zu kommunistischer Aktivität danach. Er fotografierte in der Diktatur Mädchen im BDM bei der "Erziehung zur Harmonie" und in der Demokratie eine Reportage über die ersten Neonazis der BRD von der "Sozialistischen Reichspartei". Die Neue Sachlichkeit verdankt ihm einige ihrer berühmtesten Arbeiten, und vielleicht war er auch der Erfinder des Selfies.

Aber zur Messie-Werdung hat sicherlich auch sein größter Verlust beigetragen: "10 500 Platten- und Planfilme von kulturellem und zeitgeschichtlichem Geschehen aus den Jahren 1927-1943" sowie 12 000 Vergrößerungen und 2 500 Farbdias zerstörte eine alliierte Bombe im August 1943, die sein Berliner Atelier traf. Wie hätte also die große Retrospektive dieses Jahrhundertchronisten im Sprengel-Museum in Hannover ausgesehen, wenn sein Archiv überlebt hätte? Wo hier schon die schillernde Weltsicht eines Egozentrikers aufgeblättert ist, der mit seinem Eigensinn immer knapp unter der Geduldslinie seiner Arbeitgeber blieb, dem Geld aber egal war und Hunger sein ständiger Begleiter?

Otto Maximilian Umbehr ist eine biografische Wundertüte: 1920 verließ er sein Elternhaus an dem Tag, als das zehnte Geschwister geboren wurde, weil "Erziehung nicht mehr stattfand". Als Wandervogel und Nebenfigur des Kapp-Putsches gegen die neue Weimarer Demokratie sammelte er erste Erfahrungen der Wirrnisse jener Zwischenepoche, die er dann im Kontakt mit dem Lebensreform-Guru Friedrich Muck-Lamberty, mit Mysterienspielgruppen und am Bauhaus vertiefte, wo der "vormalige Zechenarbeiter und Kokosschnitzer 1921 aufgenommen wird. Und Dank seiner einzigen Lebenskonstante, der "Kamera, sind weitere Irrungen auch belegt.

Jedes Motiv besitzt etwas Ikonisches, einen ästhetischen Aufbau des Zufälligen

Umbo, wie er sich seit der Zeit nannte, als er ins Berliner Nacht- und Kulturleben eintauchte (nachdem man ihn am Bauhaus wegen Unbelehrbarkeit im zweiten Jahr wieder rauswarf), beginnt seine fotografische Manie mit einer Serie von bekannten und vergessenen Protagonisten des großen Dabeiseins im Jahr 1926. Intime und inszenierte Großaufnahmen von seinen lebensgierigen Bekanntschaften aus dem Künstler- und Ausgeh-Milieu, geschminkt, gestylt und in mondänen Posen, machen ihn erstmals mit dem Journalismus bekannt. Seine kontraststarken Gesichter ohne Grautöne, wie er sie durch die Arbeit mit Röntgenpapier als Stil entwickelt hat, werden 1927 in der "Grünen Post" gedruckt.

Seitdem hat Umbo einen Beruf. Er fotografiert im Backstage-Bereich von Zirkus und Varieté malerische Impressionen von Artisten bei der Pause, inszeniert Schaufensterpuppen zu seriellen Monumenten des toten Glanzes. Er fotografiert Menschenaufläufe, Hinterhöfe, Künstler in ihren Ateliers und schmutzige Kinder am Strand. Und jedes dieser erhaltenen Motive besitzt etwas Ikonisches, einen ästhetischen Aufbau des Zufälligen, der Umbos Fotografie für jeden sofort erkenntlich mehr der Kunst zuweist als der klassischen Reportage.

In beinahe jeder Überblicksausstellung zur "Neuen Sachlichkeit" sind Umbos Bilder vertreten, dabei sind diese meist gar nicht so sachlich. Wenn er Industrieanlagen zeigt, dann beschränkt er sich nicht auf das skulpturale Detail technischer Macht wie echte Fotografen der nüchtern-plastischen Fotografie, sondern dann zieht im Vordergrund ein Arbeiter seinen Holzkarren bei der "Heimkehr aus dem Schrebergarten" an Schlot und Strommast vorbei. Oder seine bekannte Reportage über "Grock, den größten Clown der Welt" ist eine einfühlsame Verwandlungsstudie des würdigen Herren in einen entfesselten Spaßmacher.

Umbo war am Bauhaus, fotografierte die Avantgarde - und Bauern-Mädchen in der NS-Zeit

Überhaupt ist das Clowneske ein wiederkehrendes Motiv in Umbos Arbeit und Leben. In seinen Hungerjahren verdingt er sich selbst als einer. Seine diversen Aufnahmen aus dem Varieté zeigen selbst noch im Stern der Nazizeit die Unterhaltungskünstler in komischen Posen. Nach dem Krieg komponiert er durch ein extrem verzerrendes Froschauge groteske Szenen und Gruppenaufstellungen. Seine Selbstporträts mit der Handkamera (also die Selfies der Zwanzigerjahre) zeigen Umbo geschminkt oder mit dem Kameraschatten im Gesicht. Und auf seine alten Tage in Hannover in den Siebzigern, wo er in der Kestnergesellschaft für zeitgenössische Kunst arbeitete, sind Bilder vom Fasching oder anderen Anlässen überliefert, für die er sich mit Schmuck aus metallischem Abfall ausstaffierte.

Basteln war eine weitere Komponente dieses wandernden Fotovogels, der fast nur in Schwarz-Weiß arbeitete. In seiner "etwas" chaotischen Wohnung stand neben dem Bett eine Werkbank, auf der er Masken aus Küchenreiben und verbogenen Gabeln herstellte. Aber schon in frühen Jahren hat Umbo auch in der Tradition des Bauhaus-Lehrers László Moholy-Nagy Gegenstände auf das Fotopapier gelegt und experimentelle Symbolcollagen fabriziert. So platzierte er 1928 auf einem verwaschenen Porträt des raubeinigen Milieu-Künstlers Joachim Ringelnatz im Künstlertreff "Romanisches Café" Rasierklinge, Feder und Büroklammer.

Aus dieser mehrdeutigen Verwandlung wurde auch das Plakatmotiv der von Inka Schube kuratierten Schau in Hannover, die den Ankauf dreier Umbo-Nachlässe durch die Kulturstiftung der Länder gemeinsam mit einigen Partnerinstitutionen wie der Berlinischen Galerie und der Stiftung Bauhaus Dessau feiert. Nun kann das Werk, das mit 200 Bildern und einigen Zeitungsdokumenten in der Ausstellung dokumentiert ist, endlich in seiner ganzen erhaltenen Vielfalt neu entdeckt werden.

Und die reicht von naturwissenschaftlichen Studien über wachsende Salze zu Lichtpendelmalereien auf Fotopapier, von dem Monument für eine tote Fliege zu atmosphärisch dichten Bildern der USA aus den Fünfzigern, von sensiblen Bilddokumentationen von Displaced Persons und dem KZ Bergen-Belsen bis zu Strukturfotografie von Kakteen, Hochhausfassaden und Propangasflaschen. Und dazwischen tauchen auch immer wieder Porträts von großer Ausdrucksstärke auf: Zufallsbekanntschaften im Diner, Fischer auf Helgoland oder ernste bis optimistische Studien von Menschen im noch zerstörten Nachkriegsberlin.

Natürlich sind diese Bilder in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Fotostrecke über "Bauern-Mädchen 1939" - die wirklich jedes Stereotyp das faschistischen Rassenwahns von blondgezopften Nachwuchs-Walküren beim Frühsport und Kühemelken erfüllt - von einer gewissen moralischen Ambivalenz. Man kann es vielleicht mit einem geschmeidigen Überlebenswillen und innerer Reserve erklären, wie Umbo mit dem gewaltsamen Systemwechsel umstandslos in die Propagandafotografie hinüberwechselte, und nach dem Zusammenbruch zurückkehrte ins Metier einer teilnehmenden Beobachtung mit Kunstgefühl.

Oder man sieht dabei eine gewisse Naivität am Werke, die Umbo generell den Slalom zwischen Extremen erlaubte. Denn vom zivilisationsfeindlichen Messianismus des "Inflationsheiligen" Muck-Lamberty zur zügellosen Feier des Lebens in Berlin ist es ebenso wenig ein gerader Weg wie von der rechtsnationalen Putschbeteiligung 1920 zum Avantgarde-Programm des Bauhaus ein Jahr später. Irgendein wild zuckender innerer Kompass muss diesen Bildsucher geleitet haben, der von moralischer Anziehungskraft recht unbeeinflusst wirkte. Oder Umbo lebte nach der Ansicht, dass Leben sowieso ein Experiment mit ungewissem Ausgang ist.

Aber nur auf diesem Schleuderkurs konnte dieses bedeutende fotografische Werk entstehen, das die ebenfalls schlingernde Geschichte des 20. Jahrhunderts mit allen Höhen und Tiefen, Fliehkräften und Durststrecken erfasst hat. Und am Ende lacht der Clown in seiner überfüllten Welt der Erinnerungen, zu der es jetzt, vierzig Jahre nach seinem Tod, auch endlich einen ordentlichen Zugang gibt.

Umbo. Fotograf. Sprengel Museum Hannover. Bis 12. Mai. Katalog (Snoeck Verlagsgesellschaft, Köln) 336 Seiten, 48 Euro.

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