"Sozialer Kapitalismus":Das alte Rot und das neue Grün passen nicht mehr zusammen

Founded in 1868 by William Stones, The Cannon Brewery of Neepsend, Sheffield, South Yorkshire was taken over by Bass one hundred years after it started. In 1999 Bass closed the site due to concerns of falling sales with a loss of 57 jobs. Stone?s Bitter w

Mit guten Ideen seien die Spaltungen heilbar, sagt Paul Collier. Wirklich? Eine verlassene Fabrik in Sheffield.

(Foto: mauritius images)
  • In seinem neuen Buch "Sozialer Kapitalismus" widmet sich der Ökonom Paul Collier der Armut in seiner Heimat Großbritannien.
  • In seine ökonomische Analyse einer gespaltenen Gesellschaft verwebt er dabei auch persönliche Erfahrungen.
  • Im Gespräch mit Grünen-Chef Robert Habeck zeigt sich der Clash gegenwärtiger Weltanschauungen und die Frage, wie mit dem Kapitalismus umzugehen sei.

Von Johan Schloemann

Auf den Mobiltelefonen im voll besetzten Saal vibrieren die nächsten Eilmeldungen aus dem Brexit-Chaos in London. Es ist der Große Saal im Berliner Ensemble, dem Theater des kapitalismuskritischen Dichters Bertolt Brecht. Vorne auf der Bühne sitzt der britische Ökonom Paul Collier, weltbekannt als Analytiker globaler Ungerechtigkeiten, und schildert dem deutschen Hauptstadtpublikum sein Leiden an der sozialen und geografischen Spaltung seiner Heimat.

Der zornige alte Mann kommt selbst aus der Arbeiterklasse im Norden Englands, wo einst die Schwerindustrie erfunden und inzwischen vom Weltmarkt wieder weggefegt wurde, aus Sheffield, wo die Mehrheit für den Austritt aus der EU gestimmt hat - "das war die reine Meuterei!" -, und er hat es zum Professor in Oxford und zum Berater von Regierungen gebracht. Aber Paul Collier will hier keine rein britische und persönliche Geschichte erzählen, sondern die zu krassen Trennungen von Metropole und abgehängter Provinz, von Qualifizierten und Prekariat überall überwinden. "Ökonomie handelt von Menschen", sagt er. "Sie muss eine ethische Wissenschaft sein."

Familie, Firma, Nation - sind diese Identitätsstifter von gestern oder nicht?

Neben Paul Collier sitzt Robert Habeck auf der Bühne. Anlass ist die Vorstellung von Colliers Buch "Sozialer Kapitalismus. Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft", das gerade im Siedler Verlag herausgekommen ist. Habeck, der Grünen-Vorsitzende und Hoffnungsträger, ist derzeit auch als Literaturchef der Nation auf Tour. An diesem Freitag wird er im "Literarischen Quartett" sitzen, demnächst ist er bei der Vorstellung von Thomas Karlaufs Stauffenberg-Biografie im Einsatz und so fort. Als der Moderator informiert, man könne nachher am Ausgang auch Robert Habecks eigene Bücher persönlich signiert erwerben, sagt dieser etwas verschämt: "Deswegen bin ich nicht gekommen."

Habeck ist aber auch nicht gekommen, um Rezepte für eine ethischere Sozialpolitik abzunicken. Dies mag zwar ein Motiv gewesen sein, als er zu diesem Abend zusagte: dem Verdacht entgegenzutreten, die Bio-Wählerschaft sei letztlich ignorant gegenüber der sozialen Frage. Darum ist der Grüne auch erst einmal voll dabei, als Paul Collier wieder mehr Zusammenhalt fordert, "wechselseitige Verpflichtungen", die Stärkung schwacher Familien, die Beschränkung von Finanzgeschäften, die nichts zur Produktivität beitragen, mehr soziale Durchmischung in den Schulen oder auch die Besteuerung des Bodens.

Doch kommt es dann im Laufe des Abends zu einem exemplarischen Clash gegenwärtiger Weltanschauungen. Hinter den Reformvorschlägen von Paul Collier steckt nämlich ein kommunitaristischer Traum: die Wiederherstellung von gemeinschaftlicher Identität und gegenseitiger Fürsorge im begrenzten Rahmen von Familie, Firma und Nation. Kommunitarismus heißt, den "sozialen Paternalismus" des allzuständigen Wohlfahrtstaates abzulehnen, weil er das örtliche Verantwortungsgefühl der Menschen ausgetrocknet habe, andererseits aber den libertären Marktradikalen vorzuhalten, dass sie nur noch "die Rechte von Individuen, nicht aber die Pflichten" zur Geltung kommen lassen.

Beide Übel, so die Erzählung, sollen in den Siebziger- und Achtzigerjahren um sich gegriffen haben, während im goldenen Zeitalter des Kapitalismus, also vom Zweiten Weltkrieg bis etwa 1970, der soziale Zusammenhalt einigermaßen intakt gewesen sei. Paul Collier (der in diesem Punkt ähnliche Sympathien hegt wie der deutsche Ökonom Wolfgang Streeck) bestreitet vehement, ein Nostalgiker zu sein. Als Ökonom weiß er, dass das Rad der Globalisierung nicht zurückgedreht werden kann, er lehnt Protektionismus ab, und er will den Kapitalismus nicht loswerden, sondern "wieder aufs Gleis bringen". Doch im privaten Gespräch entfährt es Paul Collier: "Damn it, verdammt, es hat doch schon mal funktioniert!"

"Der Staat kann die Familie nicht ersetzen"

Und genau da setzt der Disput mit Robert Habeck an und mit der Klientel, die er anspricht. Sense of belonging, ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verpflichtung, das man nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfe - schön und gut. Aber Paul Collier wirft zum Beispiel erfolgreichen Singles konkret vor, nicht sich selbst zu verwirklichen, sondern schlicht egoistisch zu sein. Darum will er hochqualifizierte Gutverdiener in der Metropole stärker besteuern als die Bürger der schwächeren Städte und das Geld dorthin umleiten. Und Collier will eine massive Unterstützung auffahren, damit "sich beide Eltern an der Erziehung ihrer Kinder beteiligen", dies sei "nicht per se konservativ", sondern einfach besser für die benachteiligten Kinder. "Der Staat kann die Familie nicht ersetzen."

Da wird Robert Habeck mulmig: "Menschen leben individuelle Leben." Er lässt ein wenig in der Schwebe, ob das eine normative Aussage sein soll, warnt aber unmissverständlich vor "Umerziehung". Die inflationäre Akademisierung bremsen? Auch nicht ganz im Sinne der grünen Zielgruppe. Schuld an der Ungleichheit und anderen Missständen, so Habeck, seien doch nicht etwa die urbanen Eliten selber, sondern "ein unregulierter globaler Markt"; und da lägen die Lösungen doch nicht in einem sozialdemokratischen Nationalstaat, sondern auf der Ebene internationaler Zusammenarbeit. (Ein anderer linker Sozialwissenschaftler, Stephan Lessenich, betrachtet solche Ausflüchte als Kennzeichen der "Externalisierungsgesellschaft".)

"Sozialer Kapitalismus": Paul Collier ist Professor in Oxford

Paul Collier ist Professor in Oxford

(Foto: Verlag)

Und Robert Habeck fragt, ob Collier mit dem "sozialen Maternalismus", für den er eintritt, den Menschen nicht Mobilitätschancen rauben wolle. Worauf Collier trocken antwortet: "Die meisten Leute wollen gar nicht umziehen." Und wäre europäischer Patriotismus nicht besser, fragt Habeck? Er wäre schön, kontert Paul Collier (der Großbritannien lieber weiterhin in der Europäischen Union sähe) - aber es gebe ja keine gemeinsame europäische Sprache. Außerdem: Wo sei denn die europäische Solidarität Deutschlands gewesen, als man Griechenland in den Ruin gehen ließ?

Paul Collier ist mit Büchern wie "Die unterste Milliarde" (deutsch 2008) oder "Der hungrige Planet" (2011) bekannt geworden. Er hat ein ganzes Wissenschaftlerleben mit der Frage verbracht, mit welchen Mitteln man den ärmeren und politisch zerfallenen Ländern dieser Welt helfen könnte. Die Auswanderung in reichere Länder zählt er nicht dazu. Deswegen hat er Angela Merkels Flüchtlingspolitik scharf kritisiert, auch auf die Gefahr hin, falsche Freunde zu bekommen. Dass man jetzt langsam Afrika, wo Collier viel Zeit verbracht hat, wirtschaftlich stärken wolle, das freue ihn: "Jetzt hat sie's verstanden", sagt er über die Bundeskanzlerin. Selbst wenn die sich verbreitende Begeisterung für das "Bekämpfen von Fluchtursachen" eher innenpolitisch motiviert sein dürfte, um es milde auszudrücken, als durch die Einsicht in globalökonomische Analysen.

Mit seinem neuen Thema kommt dieser Paul Collier, der jetzt im Frühjahr siebzig wird, also gleichsam wieder nach Hause zurück. Collier war in der öffentlichen Debatte immer schon ein sturer und weltläufiger Charakter zugleich, aber noch nie ist er so persönlich geworden wie im neuen Buch "Sozialer Kapitalismus". Er erzählt von seiner Cousine, die am selben Ort und zur selben Zeit in Nordengland ins Leben startete, aber den Halt verlor und als Teenagerin Mutter wurde. Dies setzte sich in der nächsten Generation fort. Paul Collier und seine Frau haben die beiden Enkelkinder seiner ärmlichst lebenden Cousine vor zehn Jahren in ihr privilegiertes Oxforder Professorenhaus aufgenommen und adoptiert.

"Ich habe selber diese bitteren Spaltungen gelebt", sagt Collier, und es falle ihm furchtbar schwer, eine solche private Geschichte in seine ökonomische Argumentation einzubauen. Umgekehrt fällt es, wenn man all das weiß, auch nicht leicht, mit so jemandem über die Reichweite "reziproker moralischer Verpflichtungen" zu diskutieren. Ja, je mehr man über Paul Colliers Lebensgeschichte nachdenkt - nach einer viel beachteten französischen Intellektuellen-Autobiografie könnte man von seinem "Eribon-Moment" sprechen -, desto weniger kann man diesem großen Sozialwissenschaftler verdenken, dass er den Fragen nach den illiberalen Risiken des Kommunitarismus immer wieder ausweicht.

Und doch hat diese Konfrontation in Berlin etwas eindringlich vorgeführt: die Unvereinbarkeit des traditionellen, schwindenden "Rot" mit dem heutigen urbanen, individualistischen "Grün". Wenn nicht die Unheilbarkeit der Spaltungen überhaupt.

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