"Border" im Kino:Bin ich schön?

Film Border

Zurück zur Natur: Vore (Eero Milonoff, links) und Tina (Eva Melander) nach dem Liebesspiel.

(Foto: Verleih)
  • In "Border" lebt eine merkwürdige und etwas unheimliche Frau zurückgezogen am Waldrand - bis sie einen Fremden trifft.
  • Der Film könnte ein Krimi sein, aber auch Horrorfilm, Märchen oder Love Story.
  • Im Zentrum steht jedoch, was menschliches Handeln ausmacht. Und was Toleranz ausmacht.

Von Martina Knoben

Lustlos stochert Tina in ihren Spaghetti herum. Die Nudeln sehen ein bisschen wie Würmer aus. Vielleicht stört sie das? Tatsächlich sind Nudeln mit Soße einfach die falsche Nahrung für sie - aber Tina (Eva Melander) weiß das noch nicht. Ein Freund bietet ihr später einen lebenden Käfer an. Tina ziert sich zuerst: "Das tut man nicht, das ist eklig", erklärt sie. Und isst den Käfer dann doch. Es ist eine Offenbarung.

Wer sich jemals in die Welt des "Herrn der Ringe" hineingeträumt hat, wird sich eher nicht mit Gimli dem Zwerg, oder einem der grässlichen Orks identifiziert haben. Das Fantastisch-Fremde kann ja durchaus reizvoll sein - solange es schön wie ein Elbe ist, oder putzig wie ein Hobbit. Ali Abbasis "Border" überführt Figuren, die aus einer nordischen Sage stammen könnten, aus einem Märchen oder aus Tolkien-Romanen, in eine vollkommen realistisch erzählte schwedische Gegenwart. Der Film macht keine große Sache daraus, weshalb das alles vollkommen plausibel wirkt. Dabei ist das Fremde weder schön noch niedlich. Es ist hässlich, eklig und - mit Recht - furchteinflößend.

"Border" war eine große Entdeckung beim Festival in Cannes im vergangenen Jahr, wo er in der Reihe "Un Certain Regard" den Hauptpreis bekam. Für sein Make-up und Hairstyling war er außerdem für einen Oscar nominiert. Die schwedische Schauspielerin Eva Melander ist unter Schminke und Silikonmaske tatsächlich kaum zu erkennen. Ihre Figur Tina hat nicht nur ungewöhnliche kulinarische Vorlieben, sie sieht auch seltsam aus. Sie ist klein und gedrungen, mit grimmig blickenden Augen unter einer wulstigen Stirn, das ganze Gesicht wirkt deformiert. Ihre Zähne und Fingernägel sind braun und scharf wie bei einem Tier. Ihr Alter? Schwer zu sagen - vielleicht um die vierzig. Auch "untenrum" sei sie nicht ganz richtig, erklärt Tina später, eine Chromosomen-Anomalie.

Der Film ist selbst ein Bastard - ein begeisternder Mix aus Elementen verschiedener Genres

Diese merkwürdige und etwas unheimliche Frau arbeitet als Zollbeamtin an der dänisch-schwedischen Grenze. Es ist nur die erste von vielen Grenzen, die der Film - optisch wie inhaltlich - in den Blick nimmt. "Border" könnte ein Sozialdrama sein, die Geschichte einer Behinderten und Ausgegrenzten. Tatsächlich ist der Film sehr viel eigenwilliger, wilder und spannender. Wer heutzutage Diversity fordert, rennt ja scheinbar offene Türen ein - tatsächlich aber ist das Fremde immer eine Herausforderung, in der Wirklichkeit wie in diesem Film.

Tina ist für den Job der Grenzbeamtin besonders qualifiziert, denn sie kann Gefühle riechen: Scham, Schuld, Angst oder Wut. Einreisende beschnuppert sie und überführt mit Hilfe ihrer Nase etwa einen jugendlichen Alkoholschmuggler, aber auch einen ansonsten unauffälligen Anzugträger, der einen Chip mit Kinderpornografie bei sich trägt. Auf eine subtile Weise unheimlich ist das alles. "Border" könnte auch ein Krimi sein oder ein Horrorfilm. Tatsächlich ist er ein Bastard aus Fantasy-, Märchen-, Grusel- und Love-Story-Elementen vor naturalistischem Hintergrund.

"Was mich interessiert, ist, die Gesellschaft durch die Linse eines Paralleluniversums zu betrachten, und ein Genrefilm ist dafür perfekt", sagt der Regisseur. Ali Abbasi wurde 1981 in Iran geboren und ging 2002 nach Europa, wo er zuerst in Schweden, dann in Dänemark studierte. Sein Spielfilmdebüt "Shelley" lief im Panorama der Berlinale, "Border" ist sein zweiter Film. "Statt als persönliches Drama meiner eigenen Probleme erlebe ich meine Gedanken und Impulse lieber durch einen anderen Körper in einer anderer Welt als meiner eigenen. Ich denke, es ist auch interessant, die Verbindung zum Persönlichen zu durchtrennen und etwas völlig Künstliches zu schaffen", sagt Abbasi weiter. Als Vorbilder nennt er den Surrealisten Luis Buñuel und die Feministin Chantal Akerman - beides Pioniere, die den Raum des Erzählbaren im Kino auf ihre Weise erweiterten. Das gelingt auch Ali Abbasi mit "Border" auf begeisternde Weise.

Das Überschreiten von Grenzen, das Zusammenführen von Unvereinbarem ist hier Programm - und wird als eine Selbstverständlichkeit inszeniert. Indem der Film die vermeintlich eherne Grenze zwischen Alltagsrealität und mythisch-magischer Wirklichkeit einfach ignoriert, ist er selbst das beste Beispiel dafür, wie aufregend solche Grenzüberschreitungen sein können. "Border" ist eine Reflexion über Exklusion und Integration. Und über die Loyalität, die sich aus der eigenen Identität womöglich ergibt - nicht immer und nicht für jeden ist die Anpassung an eine Mehrheit der richtige Weg.

Diese Liebe ist bizarr. Ob Mann oder Frau, Mensch oder Tier - nichts ist eindeutig

Das Ausmaß an Mobbing, das Tina in ihrem Leben erfahren hat, will man sich lieber nicht vorstellen. Als erwachsene Frau hat sie sich damit abgefunden, missgebildet und unattraktiv zu sein. Sie lebt zurückgezogen am Waldrand, in einer Zweck-WG mit einem Mann, der sie ausnutzt. Bis sie auf einen Fremden namens Vore (Eero Milonoff) trifft, der Käferlarven in einer Brotzeitdose mit sich führt, gefährlich und unberechenbar wirkt - und ähnlich aussieht wie sie. "Du bist perfekt", sagt er zu ihr. Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte. Man darf nicht zu viel über den Plot verraten. Aber die Sexszene von Vore und Tina ist eine der bizarrsten, heftigsten Kinosexszenen seit Langem. Wer von beiden der Mann ist und wer die Frau, ist ebenso wenig klar wie die Frage, ob sich da nun Menschen oder Tiere paaren. Die tabubrechende, aber verschämt inszenierte Vereinigung von Frau und Fischmann in Guillermo del Toros "Shape of Water" wirkt jedenfalls wie Blümchensex dagegen.

Stoff für eigene erotische Fantasien sollte man sich davon allerdings nicht versprechen. Tinas Aussehen, ihre ganze Art und insbesondere ihr Liebesleben bleiben befremdlich, eine Zumutung - und so muss es sein. Dennoch kehrt sich die Perspektive um, blickt "Border" mit ihren Augen auf die Welt. Wie widerlich doch der Mensch sei, sagt Vore einmal, als er mit Tina über den Pädophilenring spricht, den sie aufdecken will. Sogar seine eigenen Nachkommen missbrauche er zu seinem Vergnügen. Im Gegensatz zu Tina hasst Vore die Menschen. Und er hat allen Grund dafür.

Eine Abrechnung mit der menschlichen Spezies ist "Border" dennoch nicht. Die zentrale Frage des Films ist vielmehr, was menschliches Handeln ausmacht. Die Zugehörigkeit zum "richtigen" Genpool ist es jedenfalls nicht. Ist "Identität" also vor allem eine Entscheidung? Und wo liegen die Grenzen der Toleranz? Am Ende bekommt Tina ein Paket mit einem Baby darin zugestellt. Als Tina es mit einem Käfer füttert, schmatzt es genüsslich.

Gräns, Schweden/Dänemark 2018 - Regie: Ali Abbasi. Buch: A. Abbasi, Isabella Eklöf, John Ajvide Lindqvist nach dem Roman "Gräns" von J. A. Lindqvist. Kamera: Nadim Carlsen. Schnitt: Olivia Neergaard-Holm, Anders Skov. Mit: Eva Melander, Eero Milonoff. Verleih: Wildbunch, 108 Minuten.

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