Bayerns 3:2-Sieg in Bremen:Stromausfall auf dem Rummelplatz

Warum nutzte der Schiedsrichter nicht die Chance zum Videobeweis? So endet die Partie der Güteklasse A damit, dass nun jeder seine eigene Meinung zur entscheidenden Elfmeter-Szene hat.

Von Ralf Wiegand, Bremen

Es war ein überraschendes Comeback, das diesen denkwürdigen Abend in Bremen eröffnete. Bestimmt 25 Jahre lang war Werdi verschwunden, dieser tollpatschige Riesenvogel, der einst von den Fans mit Bier überschüttet wurde, wenn er mit hängendem Schnabel an der Ostkurve des Weserstadions vorbeiwackelte. Werdi war das Werder-Maskottchen in einer Zeit, als schon so eine tumbe Fanartikel-Möwe als Ausgeburt der Kommerzialisierung galt. Heute gibt's sie noch manchmal auf Ebay, in Plüsch oder auf T-Shirt. In Zeiten von Montagsspielen, Super-League-Plänen und 80-Millionen-Euro-Transfers von Bayern München erscheint der olle Flattermann der neuen Bremer Fan-Generation freilich in einem anderen Licht: als Wappentier einer goldenen Ära, in der Werder den Bayern ebenbürtig war. Also packte sie Werdi anlässlich der Rückkehr dieser Mutter aller Nord-Süd-Duelle wieder aus, verpasste der traurigen Möwe einen Adlerblick und stellte sie ins Zentrum einer beeindruckenden Stadion-Choreografie, die Werders Trainer Florian Kohfeldt später "einfach Weltklasse" nannte.

Es war eben in jeder Hinsicht ein Pokalkampf der Güteklasse A zwischen Werder und dem FC Bayern, wenngleich Werdi zum Leidwesen der Bremer nicht der einzige Rückgriff aufs letzte Jahrhundert blieb. Auch die Diskussion um die entscheidende Szene hatte den Sound einer vergessen geglaubten Zeit, als Schiedsrichter noch hilflos sich selbst und ihrem eigenen Urteil ausgeliefert waren. Die Formulierung "umstrittener Strafstoß" müsste in Zeiten des Videoassistenten ja längst auf der Liste der aussterbenden Redewendungen stehen.

Aber am Mittwoch in Bremen, kurz vor Mitternacht? "Kann man geben", "darf man auf keinen Fall geben", "ey, lächerlich", "vollkommen berechtigt", "Ellbogen ausgefahren", "Schubser von hinten", "umgerissen", "an der Ferse berührt", "war da überhaupt was?": Das sind alles Interpretationen oder Wahrnehmungen derselben Szene, jenes Zweikampfes zwischen dem Bremer Verteidiger Theo Gebre Selassie und dem Münchner Angreifer Kingsley Coman aus der 79. Minute. Ein Pfiff, ein Elfmeter, Tor für Bayern München. Danach war diesem 100 000-Volt-Spiel der Stecker gezogen. Stromausfall auf dem Rummelplatz. Wer weiß, welche Eskalation diese Partie sonst noch in petto gehabt hätte, nachdem Werder binnen 60 Sekunden von 0:2 auf 2:2 zurückgekommen war. Vielleicht wäre die nächste Fahrt ja rückwärts gegangen - alles schien möglich zu sein.

Der Abend hatte das Zeug zum Klassiker, bis Daniel Siebert, 34, vom FC Nordost Berlin sich selbst vertraute. So war das früher auch. Zu den Zeiten der Werdis, Bumsis und Bernis oder wie die pappmascheeköpfigen Monster hießen, hing alles vom ersten Reflex des Schiedsrichters ab. Sein Pfiff schuf Tatsachen. Unfehlbarer war nur der Papst.

"Wir haben einen Videobeweis. Wenn er das nicht sieht, können wir ihn wieder abschaffen", beschwert sich Max Kruse

Aber heute? VAR. Video Assistant Referee. Ein Keller in Köln als höchste Instanz für Transparenz. Man sollte glauben, dass nach fast zwei Bundesligaspielzeiten mit beinahe 600 VAR-Einsätzen alle Szenarien durchgespielt, alle Fehler gemacht, alle Regeln klar sein sollten. Stattdessen klagte Werders Sportchef Frank Baumann: "Bei so einem Spiel, Pokal-Halbfinale, 2:2, kurz vor Schluss, da muss man sich die Möglichkeit nehmen, das mal von außen anzusehen. Heute haben wir den Videoassistenten und nutzen ihn nicht? Das kann ich nicht nachvollziehen, tut mir leid." Florian Kohfeldt sagte: "Gäbe es keinen Videoschiedsrichter, könnte ich mit dem Elfmeter leben. Aber so. . ." Max Kruse fand den Pfiff ebenso lächerlich wie die Tatsache, dass Siebert nicht nach draußen ging, um sich die Szene noch einmal anzuschauen: Dann könne man den Videobeweis auch "wieder abschaffen".

Wenn es stimmt, was Bremer Spieler berichteten, nämlich dass der Schiedsrichter ihnen gegenüber auf dem Platz von "einer Berührung unten" (Maximilian Eggestein) als Begründung für den Strafstoß gesprochen hatte, wäre er tatsächlich einem korrigierbaren Irrtum erlegen. Dann hätte er sich die Szene noch einmal selbst auf dem Monitor ansehen und den Kontakt zwischen Gebre Selassie und Coman neu bewerten können. Ob es nun ein "Rempler" war (Bayern-Trainer Niko Kovac), ein "Umreißen" (Präsident Uli Hoeneß), ob der Bremer dem Münchner "an der Hüfte einen mitgegeben" hat (Thomas Müller), oder ob halt nur ein bisschen handelsüblicher Körperkontakt in einem Laufduell vorlag.

Transparent ist nach wie vor leider nichts am VAR-Wesen. Im Stadion konnten die Zuschauer nur ahnen, dass Siebert mit dem Kölner Keller Kontakt hatte, weil er sich mal kurz ans Ohr fasste, wo ein kleiner Kopfhörer drinsteckt. Aber was wurde besprochen? Wurde überhaupt gesprochen? In so einem großen Halbfinale ist das keine kleine Sache, wie sich tags darauf zeigte, als der DFB sich zu einer Stellungnahme des Videoschiedsrichterchefs Jochen Drees genötigt sah, auf der Verbands-Homepage. Man könnte den Text auch mit "Geständnis" überschreiben: Drees sagte, es hätte "unbedingt zu einem On-Field-Review" kommen müssen, Siebert hätte sich die Szene also auf Empfehlung des Videoassistenten Robert Kampka selbst noch einmal anschauen sollen. Jedoch sei die Kommunikation zwischen den beiden "nicht gut abgelaufen". Jetzt haben die Bremer zwar Gewissheit, dass etwas nicht stimmte, sind aber trotzdem noch ausgeschieden. "Brutal" fand Kohfeldt das schon am Tatabend. Den jungen Mann, 36 ist er erst, muss man nicht zu den Laptop-Trainer-Nerds zählen, den VAR würde er am liebsten wieder VER-schwinden lassen. Kohfeldt mahnt, dass auch auf der Bank inzwischen moderne Kommunikation erlaubt ist. Während der Schiedsrichter mit dem Videoassistenten herumeiert, "haben wir ja auch Fernsehen. Wir sehen das. Das schürt Emotionen", und darüber müsse man reden. Ansonsten wollte er aber nicht nur über diesen Strafstoß reden, das würde dem Spiel nicht gerecht "und uns auch nicht". Stimmt, der Abend war größer als ein Pfiff, groß wie Werdi in der Fan-Aufführung. Der erwies sich aber auch wiedergeboren nicht als Glücksvogel. "Konnte ja nicht gut gehen", soll ein Werder-Vorstand damals gesagt haben, als der Vogel erstmals eingemottet worden war, "ein Wappentier, das einem auf den Kopf scheißt."

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