Gastbeitrag:Der Sündenbock

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Geringe öffentliche Investitionen werden von einigen Ökonomen der Schuldenbremse zugeschrieben. Das ist falsch.

Von Lars Feld und Wolf Heinrich Reuter

Die höchsten Steuereinnahmen seit Jahrzehnten hindern Ökonomen und Politiker nicht daran, sich mit Ideen zu überbieten, wie - schuldenfinanziert - noch mehr Geld ausgegeben werden könnte. Es brauche mehr öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, Bildung oder Grundlagenforschung. Renten und andere Transferausgaben sollten für den Zusammenhalt in der Gesellschaft erhöht werden. Die deutsche Wirtschaft brauche dringend Steuersenkungen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die seit 2011 geltende Schuldenbremse führt dazu, dass gerade in guten Zeiten nicht alle Ideen gleichzeitig umgesetzt werden können, sondern dass sich die Politik zwischen verschiedenen Optionen entscheiden muss. Einige Ökonomen haben in den vergangenen Wochen die Schuldenbremse als Schuldige für vermeintlich zu geringe öffentliche Investitionen ausgemacht und plädieren für ihre Aufweichung oder Abschaffung.

Weltweit sind mehr als 100 Fiskalregeln in Kraft, wozu die Schuldenbremse zählt. Sie sind wesentlich dadurch begründet, dass im Zusammenspiel von Politikern, Wählern und Interessengruppen eine Verzerrung hin zu übermäßiger Verschuldung besteht. Es gibt eine Vielzahl an Studien die diese Verzerrung empirisch belegen. Eine Verzerrung hin zu Überschüssen, wie sie zuweilen behauptet wird, lässt sich hingegen nicht empirisch belegen. Fiskalregeln helfen außerdem, die Erwartungen an den Finanzmärkten zu stabilisieren und niedrigere Refinanzierungskosten des Staates sicherzustellen. In einer Währungsunion dämmen sie negative Effekte ein, die durch zu hohe Verschuldung in einem Land auf das andere überschwappen können. Aber verhindert die Schuldenbremse in Deutschland öffentliche Investitionen? Die Schuldenbremse verlangt, dass die um konjunkturelle Einflüsse bereinigten Ausgaben nur etwas höher ausfallen dürfen als die bereinigten Einnahmen. Letztere wachsen ohne Änderungen im Steuersystem in etwa mit der Steuerbasis, also dem über den Konjunkturzyklus durchschnittlichen BIP, dem volkswirtschaftlichen Potenzial. Die Schuldenbremse hat demnach einen Effekt auf die Wahl der Höhe der Gesamtausgaben. Wie die zusätzlichen Ausgaben auf investive und konsumtive Zwecke verteilt werden, also die Priorisierung unterschiedlicher Ausgaben, entscheidet die Politik.

Investitionen in Infrastruktur und Bildung sind wichtig, unabhängig von der Höhe der Zinsen

Wie hat sich die Politik seit Inkrafttreten der Schuldenbremse im Jahr 2011 entschieden? Die monetären Sozialleistungen des Gesamtstaates wurden um fast 100 Milliarden Euro und die sozialen Sachleistungen um 75 Milliarden Euro erhöht. Die Bruttoinvestitionen stiegen im gleichen Zeitraum um lediglich 17 Milliarden Euro, obwohl durch die gute Haushaltslage genügend Spielraum für höhere Investitionen vorhanden gewesen wäre. Dies ist insgesamt kein Beleg dafür, dass die Schuldenbremse keine Wirkung hatte. Es ist nicht klar, wie sich die Ausgaben ohne Schuldenbremse entwickelt hätten. Transfer- und Konsumausgaben des Staates wären wohl noch stärker gestiegen. Doch dass die öffentlichen Investitionen höher ausgefallen wären, lässt sich bezweifeln. Diese sind in Deutschland nämlich in der Zeit, in der sie nicht durch eine Fiskalregel beschränkt waren, nicht etwa gestiegen, sondern gesunken.

Wolf Heinrich Reuter, 34, ist seit 2016 im Sachverständigenrat und seit Mai 2018 dessen Generalsekretär. (Foto: oh)

Die Kritik setzt noch an zwei anderen Punkten an: Zum einen solle der Staat sich mit Zinssätzen, die kleiner sind als die Wachstumsraten, stärker verschulden, um zu investieren. Zum anderen führe die Schuldenbremse zu einer "Stop and go"-Investitionspolitik und verhindere eine verlässliche Finanzierung, Planungssicherheit und verstetigte, konjunkturunabhängige Investitionen. Die Zinsen sind zwar aktuell niedriger als die Wachstumsraten, wodurch zusätzliche Verschuldung für Deutschland weniger problematisch ist. Dies muss jedoch nicht so bleiben und war in der Vergangenheit nicht die Regel.

Olivier Blanchard, der die Diskussion angestoßen hat, verweist darauf, dass es nach wie vor Schuldenstandsquoten und Defizite gibt, die aufgrund der aktuellen und zukünftigen Zinsen nicht nachhaltig sind. Er möchte seinen Diskussionsbeitrag nicht als Aufruf zu mehr Schulden verstanden wissen. Für Deutschland gilt es mit Bezug auf die intergenerationale Gerechtigkeit, nicht nur eine funktionierende Infrastruktur weiterzugeben. In der momentan guten Haushaltlage ist vielmehr der richtige Zeitpunkt zu sparen, bevor der demografische Wandel die relativ große Erwerbsbevölkerung von Zahlern zu Empfängern macht, die dann von einer relativ kleineren Erwerbsbevölkerung finanziert werden.

Investitionen in Infrastruktur und Bildung sind wichtig, unabhängig davon, ob die Zinsen über oder unter den Wachstumsraten liegen. Es würde verwundern, wenn Kritiker dann für weniger Investitionen eintreten würden, sollte sich das Verhältnis wieder umdrehen. Für den Wachstumseffekt von Investitionen ist es sowieso erst einmal irrelevant, ob sie durch Schulden finanziert werden oder nicht. Gleichwohl ist es übertrieben, in öffentlichen Investitionen ein Allheilmittel zu sehen. Sie sind nicht zwingend staatlichen Konsumausgaben überlegen, wenn der Staat tut, was er soll, nämlich Marktversagen korrigieren. So ist Rechtssicherheit eine der wesentlichen Voraussetzungen für private Investitionen. Die entsprechenden Ausgaben zählen aber vornehmlich zum Staatskonsum.

Dafür, dass die Schuldenbremse eine Verstetigung von Investitionen und Planungssicherheit verhindert, fehlt zudem jeglicher empirischer Beleg. Wenn die Politik sich dazu entscheidet, kann sie langfristige und größere Investitionen innerhalb der Schuldenbremse umsetzen. Aus politökonomischen Gründen scheint man dies der Politik jedoch nicht zuzutrauen und möchte Investitionen daher in der einen oder anderen Form aus der Schuldenbremse ausnehmen. Warum diese politökonomischen Überlegungen valide sind, aber diejenigen zur Begründung der Schuldenbremse nicht, bleibt ein Rätsel.

Die Schuldenbremse hat ihre Probleme, wie etwa die Messung des strukturellen Defizits in Echtzeit. Beiträge zur Verbesserung der Messung wären hilfreich, eine Abschaffung oder ein Ersatz durch Regeln mit Unschärfen ist problematisch. Um die öffentlichen Investitionen zu erhöhen, muss die Schuldenbremse weder reformiert noch abgeschafft werden. Statt die Politik zur Abschaffung oder Reform der Schuldenbremse bewegen zu wollen, sollte die Politik für eine Priorisierung öffentlicher Investitionen gewonnen werden.

© SZ vom 29.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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