Debatte zur Europawahl:50 Prozent Frauen in der EU-Kommission? Aber klar

Europawahl - EU-Spitzenkandidaten bei einer Debatte 2019 in Maastricht

Die Spitzenkandidaten bei der Debatte zur Europawahl: Frans Timmermans, Jan Zahradil, Violeta Tomič, Bas Eickhout und Guy Verhofstadt (v.l.n.r.), umrahmt von den Moderatoren Rianne Letschert (Rektorin der Universität Maastricht) und Ryan Heath von Politico.

(Foto: AFP)

Vor der Europawahl debattieren die Spitzenkandidaten über die Zukunft Europas. Dass CSU-Vize Weber lieber mit Theo Waigel feiert, fällt negativ auf - und bietet zwei Niederländern die Chance zur Profilierung.

Von Matthias Kolb, Maastricht

Die fünf Hände werden sofort in die Höhe gereckt. "Verpflichten Sie sich, als nächster Chef der EU-Kommission ein Team zu berufen, in dem die Posten gleich verteilt sind zwischen Männern und Frauen?", fragt Moderatorin Rianne Letschert und alle auf der Bühne stimmen zu. Das gilt für die einzige Frau, die Linke Violeta Tomič, ebenso wie für den Sozialdemokraten Frans Timmermans, den Grünen Bas Eickhout, Guy Verhofstadt von den Liberalen und den Konservativen Jan Zahradil. Sie wurden von ihren Parteienfamilien als Spitzenkandidaten für die Europawahl nominiert und diskutieren daher nun im Vrijthof-Theater von Maastricht darüber, wie man Europa zukunftsfest und interessanter für junge Leute machen kann.

Viel Zustimmung findet die Idee, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, nach der Europawahl jeweils eine Frau und einen Mann für die neue EU-Kommission zu nominieren. Der Grüne Eickhout nennt ein Druckmittel, das jeder Nachfolger von Jean-Claude Juncker habe: "Die interessanten Posten werde ich nur an Frauen vergeben." Ähnlich äußert sich Timmermans, der Erste Vizepräsident der EU-Kommission. Der ehemalige niederländische Außenminister nutzt seine Chancen am konsequentesten. Als die Moderatoren von einem "historischen Moment" sprechen und über den abwesenden Manfred Weber von der CSU witzeln, ruft der Sozialdemokrat: "Lasst uns fair sein, auch Weber will einen Frauenanteil von 50 Prozent."

Timmermans hat recht: Eine Woche zuvor hatte sich der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) zu diesem überfälligen Schritt bekannt. Dass Weber lieber in Bayern an einer Konferenz zum 80. Geburtstag seines Mentors Theo Waigel teilnimmt, verblüfft viele Beobachter in Brüssel: Schließlich hat Weber als Kandidat der wohl auch künftig größten Fraktion im Europaparlament die besten Chancen, Juncker zu beerben und sollte alles tun, die eigene Bekanntheit und die des Spitzenkandidaten-Prinzips zu erhöhen.

Der Sozialdemokrat Timmermans kann folglich in der abwechslungsreichen und klug strukturierten Debatte ungestört den Staatsmann geben ("Lasst uns fair sein") und Weber und dessen EVP als rückwärtsgewandt darstellen - gerade beim Kampf gegen die verheerenden Folgen der Erderhitzung. "Geht raus und wählt grün", ruft Timmermans und ergänzt sofort, dass die grünen Parteien nicht das Monopol auf nachhaltige Politik hätten. Er verweist darauf, dass seine Sozialdemokraten im Europaparlament ebenso wie die Grünen und die Linke stets für mehr Klimaschutz gestimmt hätten - anders als eben die EVP. "Das ist kein Schönheitswettbewerb, hier geht es um eure Zukunft", ruft der Niederländer, der nach der Wahl eine "progressive Mehrheit" schmieden muss, um vom Europaparlament gewählt zu werden.

Das Publikum sieht Timmermans als Sieger der Debatte

Der erfahrene Wahlkämpfer weiß, was beim Publikum ankommt; also bezeichnet Timmermans eine einheitlich auftretende EU als "Schutz vor Trump und dessen Idiotien" in Sachen Klimawandel und Umweltschutz. Er betont die Chancen, die Europa als globaler Vorreiter nutzen könne, um höhere Standards zu setzen: "Weil der Rest der Welt mit uns Geschäfte treiben will." Timmermans verweist auf die Strategie zum Verbot von Einwegplastik, das er als Kommissar vorangetrieben habe, und dass diese nun weltweit kopiert werde. Mehrfach erhält der 57-Jährige, der wenige Kilometer von Maastricht entfernt wohnt, lauten Beifall - und er gewinnt auch die Online-Abstimmung: Ungefähr 44 Prozent der etwa 6000 Teilnehmer sehen ihn als Sieger. Dahinter folgen Eickhout (36 Prozent), Belgiens Ex-Premier Verhofstadt (neun Prozent) sowie der konservative Tscheche Zahradil (sieben) und Tomič (fünf).

Diese Erhebung ist nicht repräsentativ, aber sie gibt doch gut wieder, wer den Abend ebenfalls für sich nutzen kann: Der Niederländer Bas Eickhout bildet mit der Deutschen Ska Keller das grüne Spitzenduo und zeigt sich gut vorbereitet und schlagfertig. Als ehemaliger Klimaforscher kann der 42-Jährige natürlich mit Forderungen für einen "grünen New Deal" punkten und er legt sich mehrfach mit Guy Verhofstadt an. Als der Abgesandte des liberalen "Spitzenteams" verkündet, dass die EU keine Freihandelsabkommen mit Staaten abschließe, die das Pariser Klimaabkommen ablehnten, ruft Eickhout: "Aber warum haben die Liberalen dann im Europaparlament für Verhandlungen mit den USA votiert?"

Weber fehlt, Timmermans attackiert

In der Debatte klagt Eickhout, dass die EU nicht strikt genug gegen die Verursacher von Luft- und Umweltverschmutzung vorgeht und fordert höhere Preise für CO₂-Ausstoß. Weil es allen Umfragen zufolge im nächsten Europäischen Parlament nicht länger eine Mehrheit aus Sozialdemokraten und EVP geben wird, werden auch die Grünen umworben (in den Niederlanden sind sie populärer als die Sozialdemokraten). Auf die Frage, ob seine Partei Weber zum Kommissionschef wählen könnte, sagt dieser: "Das hängt von ihm ab. Will er eine Mehrheit mit den fortschrittlichen Parteien bilden und ein anderes, demokratischeres Europa bauen - oder enger mit den Rechten kooperieren?" Die Wahl in Spanien, so Eickhout, sei eine Warnung: Die Volkspartei sei weit nach rechts gerückt und hätte so die deutlich konservativere Vox-Partei gestärkt.

Das Ziel von Guy Verhofstadt ist es, die Liberalen als neue Kraft und Alternative zu Sozial- und Christdemokraten zu etablieren. Sie haben sich mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dessen "En Marche"-Bewegung verbündet und daher keinen Spitzenkandidaten nominiert - der Franzose lehnt dieses Prinzip ab und sieht sich und die anderen Staats- und Regierungschefs dadurch nicht gebunden.

Dass Verhofstadt, der sich Hoffnungen auf das Amt des Parlamentspräsidenten macht, ein glühender Fan von mehr europäischer Integration ist, wird stets deutlich. Er appelliert wie die anderen Diskutanten dafür, die Tech-Branche stärker zu regulieren, und zwar durch eine europaweite Instanz. Dies würde Start-ups das Leben erleichtern und so ließe sich Verhofstadts Traum eines "europäischen Facebook" verwirklichen: Er hält ein Schaubild mit bunten Kreisen hoch: Die gelb-orangefarbenen Ballons aus Europa sind mickrig im Vergleich zu den roten und blauen, die für die USA und China stünden. Europa müsse hier aufholen, so Verhofstadt.

Violeta Tomič von den Linken setzt in dieser Frage andere Prioritäten: Die Tech-Firmen müssten nicht nur endlich angemessene Steuern zahlen, sondern auch alle Steuerschlupflöcher in der EU gehörten geschlossen. Die Abgeordnete aus Slowenien beklagt, dass sich Europa weit von seinen Idealen entfernt habe und die soziale Ungleichheit zunehme, weshalb immer mehr Europäer Probleme hätten, ihre Rechnungen zu bezahlen: "Nur die Banker und Aktienhändler in Frankfurt und der City of London haben vergessen, dass es je eine Finanzkrise gab." Auch ihre Parteienfamilie will die Wirtschaft umbauen und nachhaltiger machen, aber dies gehe nicht im aktuellen System: "Wir müssen den Neoliberalismus abschaffen."

Nicht einfach ist auch die Aufgabe für den Tschechen Jan Zahradil, den Vertreter der Europäischen Konservativen und Reformer (zu dieser Gruppe gehören etwa die britischen Tories oder die polnische Regierungspartei PiS). Er hebt als Einziger nicht die Hand, als die Kandidaten gefragt werden, ob sie die streikenden Schüler der "Fridays for Future"-Bewegung unterstützen. Ihm sind die Forderungen zu radikal und der angehende Umbau der Wirtschaft zu schnell: Dies könne Europas Industrie und damit Wohlstand gefährden. Die eigene Haltung bringt der laut Selbstbeschreibung "Europa-Realist" im Schluss-Statement so auf den Punkt: "Meine Wähler wollen, dass die EU weniger Dinge macht - und diese dafür besser."

An dieser Stelle wäre es spannend gewesen, die Reaktion des EVP-Kandidaten Manfred Weber zu hören und zu beobachten, auf welche Seite der Argumentation der CSU-Vize sich schlägt. Sei es drum: Der Maastrichter Abend macht Lust auf die kommenden Debatten, die vor der Europawahl noch stattfinden werden: An diesem Donnerstag sowie am 15. Mai kommen die Spitzenkandidaten aller Parteien in Florenz beziehungsweise Brüssel zusammen. EVP-Spitzenkandidat Weber und sein Herausforderer Timmermans sind für zwei TV-Duelle in Deutschland verabredet: Am 7. Mai in der ARD und am 16. Mai in ZDF und ORF.

Dass Frans Timmermans die Chance nutzen will, sich den Deutschen vorzustellen und für die SPD zu werben, ist klar - und auch, dass er attackieren will. Als er nach Ende der Debatte in Maastricht auf Webers Abwesenheit angesprochen wird, kontert er nur knapp: "Das muss er selber wissen. Theo Waigel ist natürlich wichtig für die CSU, aber die CSU ist auch eine Partei der Vergangenheit. Wir hier sind die Zukunft."

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