Estland:"Vertrauliches per SMS"

Estland: Kersti Kaljulaid wünscht sich, dass ihr Land nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats wird. Sie will die digitalen Rechte stärken.

Kersti Kaljulaid wünscht sich, dass ihr Land nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats wird. Sie will die digitalen Rechte stärken.

(Foto: AFP)

Die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid wirbt für eine umfassende Digitalisierung in Deutschland, weil dies die Daten der Bürger sicherer machen würde.

Interview von Kai Strittmatter

Die 49 Jahre alte Kersti Kaljulaid ist seit Oktober 2016 Präsidentin von Estland. Das Land nennt sich "die digitalste Gesellschaft der Welt", man kann dort seine Steuererklärung online in zwei Minuten erledigen, wählen kann man über das Internet, was bei der letzten Abstimmung mehr als 40 Prozent der Wähler taten. Zuletzt machte das Land jedoch Schlagzeilen wegen der Partei Ekre, die es im April als Juniorpartner in die neue Regierung schaffte und deren Politiker mit rassistischen und rechtsextremen Äußerungen von sich reden machten. An diesem Freitag ist Kaljulaid in New York, denn Estland bewirbt sich um einen Platz als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Das Interview fand in Berlin statt, wo Kaljulaid diese Woche beim Tag der Industrie den Deutschen ein wenig Digitalisierungsnachhilfe gab.

SZ: Auf die Frage, wie weit Deutschland digital Ihrem Land hinterherhinke, sagten Sie vor ein paar Wochen: 16 Jahre. Weil Estland schon 16 Jahre vor Deutschland eine digitale ID eingeführt hat.

Kersti Kaljulaid: Die deutsche Industrie ist schon seit den 1990er-Jahren sehr digital. Ich weiß nicht, warum die Industrie hier dann ihre Regierung zurückgelassen hat. Wenn sie der Regierung damals gesagt hätte: Wir brauchen ein gemeinsames Rückgrat, das alle unsere Services miteinander verbindet, und auch die Dienste von dir, liebe Regierung, sodass wir unsere Steuern und andere Dinge online erledigen können - es hätte hier passieren können. Ist es aber nicht. Das Innovative in Estland liegt darin, dass privater und öffentlicher Sektor miteinander kooperieren.

Wo steht Deutschland denn heute?

Ich habe in meinen Gesprächen mit deutschen Unternehmern betont: Ihr könnt nicht darauf warten, dass eure Regierung die Gesellschaft digitalisiert. Ihr müsst selbst anfangen, die digitale ID zu benutzen, die Deutschland ja nun eingeführt hat, die aber seit zwei Jahren vor sich hin dümpelt. Das ist das fehlende Glied. Kanzlerin Angela Merkel hat mir heute gesagt, dass die Regierung Hunderte von Dienstleistungen hätte, die sie auf der Plattform bereitstellen wolle. Aber das Problem ist doch: Wenn nur der öffentliche Sektor seine Dienste dort digitalisiert und der Privatsektor noch immer seine eigenen digitalen IDs benutzt, dann wird das nie der eine Pass, den alle gerne hätten. Der Ball liegt im Feld der Privatwirtschaft.

Wie dringend ist das denn?

Sehr. Eure digitale ID kann nun seit zwei Jahren benutzt werden. Immer mehr Leute werden aber enttäuscht: Wenn sie sich einloggen, können sie nicht viel tun. Sie haben hier noch immer keine E-Gesundheitsdienste, wo sich Leute mit ihrer digitalen ID einloggen und etwa ihre Labortests abrufen könnten. Dabei wissen wir doch, dass überall in Europa diese Labore eigene Systeme betreiben, die total unsicher sind. Sie verschicken Vertrauliches per SMS.

Der Staat schafft hier Vertrauen?

Vertrauen ist essenziell. Viele Leute sagen: Das ist doch nicht sicher online. Und ich frage sie: Wie bitte? Sie haben sicher Ihre Papierakte in der Klinik Ihres Arztes - wenn Sie aber nicht persönlich hingehen, um die Akte auf Fingerabdrücke zu untersuchen, dann wissen Sie nicht, wer zuletzt Ihre Papiere gelesen hat. Online weiß ich das. Wer auch immer meine Daten liest, hinterlässt einen elektronischen Fingerabdruck. Und er kann sich bei mir ausschließlich mit seiner persönlichen ID einloggen, nicht als Institution. Das ist wahre Sicherheit.

Die Deutschen sind vielleicht ängstlicher.

Man muss nicht garantieren, dass etwas absolut sicher ist. Das Einzige, was wir tun müssen, ist, zu demonstrieren, dass es sicherer ist als Papier. Und das ist es definitiv.

Der Datenschutz ist zentral im estnischen System. Aber was passiert, wenn in einem Staat alle Daten digital sind und dann die Demokratie ins Autoritäre kippt?

Ich bitte Sie! Hat es Stalin davon abgehalten, die Esten nach Sibirien zu verschleppen, weil er keinen digitalen Staat hatte? Technologie ist kein Instrument, das die Menschheit automatisch besser machen würde. Aber wenn du dich ihr vorsichtig näherst, ist sie nicht gefährlich.

Wie geht Estland da vor?

Estland ist nicht der Wilde Westen der digitalen Welt. Es ist alles streng reguliert. Wenn ein Beamter sich die Daten eines Bürgers anschaut, muss er sich persönlich einloggen. Ich weiß genau, welcher Polizist wann und wie lange meine Daten ansieht. Und wenn sie es tun, dann habe ich das Recht auf Nachfrage.

Was ist mit den Regeln jenseits des nationalen Raums?

Wir müssen endlich sicherstellen, dass unser internationales Regelwerk auch im Cyberspace greift. Kann es zum Beispiel ein Angriff auf deine Souveränität sein, wenn jemand deinen digitalen Raum angreift? Mehr und mehr denken wir, ja.

Ist das ein Teil Ihrer Vorhaben für den UN-Sicherheitsrat?

Das ist der einzige Grund, warum wir uns für einen Sitz bewerben. Die UN hatten schon sechs Arbeitsgruppen zu dem Thema. Wir haben bei allen mitgearbeitet. Und wir sehen: Da tut sich nichts. Alles Digitale muss endlich integraler Bestandteil von Konfliktlösungsmechanismen werden. Da tut sich viel zu wenig, viel zu langsam.

Zu Hause läuft nicht alles in Ihrem Sinne. Die Rechtsaußen-Partei Ekre ist nun Teil der Regierung.

Das Gute ist: Es ist eine Koalition. Und solange die zwei anderen Parteien pro-europäisch denken, wird sich nichts an der estnischen Europapolitik ändern. Aber es stimmt, ihr Vokabular ist eines, das ich nicht in der Politik sehe.

Der Chef des Finanz-Start-ups TransferWise sagte, der Schaden für den Ruf Estlands sei schon jetzt "unermesslich".

Ja, und ich stimme ihm da zu. Ich glaube, die Esten werden sich das noch einmal überlegen, wenn sie sehen, wie groß der Schaden ist.

Bei der Vereidigung der Ekre-Minister trugen Sie einen weißen Pullover, auf dem zu lesen war: "Die Worte sind frei".

Es hatte im Vorfeld Angriffe auf unsere Medien gegeben. Ich hatte das Gefühl, ich musste unseren Journalisten und Medienhäusern beispringen. Aber die Schere sitzt letztlich im Kopf, es liegt alles in den Händen der Journalisten. Sie müssen selbst aufstehen für ihre Sache.

Was kann Europa denn tun gegen den Rechtspopulismus?

Wenn die Welle über ganz Europa schwappt, wenn Leute aus welchem Grund auch immer enttäuscht sind von Europa und praktisch bereit sind, das alles in die Luft zu jagen, dann müssen wir vielleicht einmal genau hinschauen.

Und dann?

Sehen wir als mögliche Ursachen vielleicht eine schwache Regionalpolitik. Und ein schwaches Gegensteuern gegen die Resultate von Industrialisierung und Globalisierung. In Estland ist das definitiv so. Viele Leute auf dem Land fühlen sich abgehängt. Die Gehälter in Estland sind gestiegen, von 30 Dollar pro Kopf auf 1400 Dollar. Aber der Durchschnitt ist völlig egal, wenn alles an dir vorüberzieht. Wir sind alle reicher geworden, aber die Verhandlungsmacht der einfachen Leute ist gesunken. Es ist nun die Aufgabe der Regierung, da entgegenzusteuern.

Einige scheinen nun allerdings aufgewacht zu sein.

Ja, viele sagen mit einem Mal: Warte mal, ich mag unser europäisches Projekt doch. Aber es reicht nicht, auf dieser Welle zu reiten. Du musst die Probleme angehen. Zum Beispiel müssen wir in Estland absolut sicherstellen, dass wir unser egalitäres Schulsystem behalten. Wir müssen sicherstellen, dass es soziale Mobilität in jeder Generation gibt. Wenn es soziale Mobilität gibt, dann verlieren nämlich die Menschen auch über Generationen hinweg nicht die Hoffnung. Wenn die Leute die Hoffnung verlieren, dann wollen sie Revolution. So einfach ist das.

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