Nestlé:Gigant der Skandale

Nestlé: Greenpeace-Aktivisten demonstrieren vor einer Nestlé-Fabrik in Nairobi: 2018 produzierte der Konzern 1,7 Millionen Tonnen Plastikverpackungen.

Greenpeace-Aktivisten demonstrieren vor einer Nestlé-Fabrik in Nairobi: 2018 produzierte der Konzern 1,7 Millionen Tonnen Plastikverpackungen.

(Foto: Yasuyoshi Chiba/AFP)

Der weltgrößte Nahrungsmittelkonzern hat es verstanden, sich immer wieder jede Menge Ärger einzuhandeln.

Von Silvia Liebrich, Isabel Pfaff

91 Milliarden Franken Umsatz, 300 000 Mitarbeiter, mehr als 2000 Marken, täglich mehr als eine Milliarde Konsumenten - das ist Nestlé. Der weltgrößte Nahrungsmittelkonzern mit Sitz im schweizerischen Vevey prägt seit gut 150 Jahren, was viele Menschen rund um den Globus essen und trinken. Marken wie Nescafé, Kitkat, Smarties, Maggi, Thomy, Nido sind weithin bekannt. Im Supermarkt ist es schwer, an Nestlé-Produkten vorbeizukommen, egal auf welchem Erdteil. Nun ist Größe an sich kein Verbrechen, sondern eher ein Zeichen des Erfolgs. Nestlé aber hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Skandale produziert. Kritiker werfen dem Konzern vor, mit seinen Produkten Profit auf Kosten der Ärmsten zu machen. Was ist dran an den Vorwürfen?

Viele Anschuldigungen betreffen den Bereich, um den es auch in dem umstrittenen Video von Julia Klöckner und Nestlé-Deutschland-Chef Marc-Aurel Boersch geht: Wie gesund sind die Nahrungsmittel, mit denen Nestlé Läden in aller Welt beliefert? Mit Babynahrung in Pulverform, bis heute einer der Verkaufsschlager, begann Nestlés globaler Siegeszug. In den Siebzigerjahren veröffentlichte indes eine englische Hilfsorganisation die Studie "The Baby Killer". Sie kritisierte die Nestlé-Werbung für Milchpulver in Entwicklungsländern scharf, weil sie Mütter vom Stillen abbringe und dazu verleite, Milchpulver mit verschmutztem Wasser anzurühren. Nestlé, so die Studie, sei damit verantwortlich für den Tod unzähliger Säuglinge.

Nestlé wehrte sich gegen die Vorwürfe, verklagte in der Schweiz Aktivisten, welche die Studie ins Deutsche übersetzt hatten. Einige Jahre später aber bekannte sich der Konzern als einer der ersten Milchpulverhersteller zu einem WHO-Verhaltenskodex, der für die Vermarktung von Babynahrung strenge Regeln vorgibt. Bis heute setzt sich Nestlé intensiv mit dem Thema auseinander, hat umfangreiches Material auf seiner Website veröffentlicht, groß überschrieben mit: "Brustmilch ist der beste Start für ein Neugeborenes." Trotzdem werden immer wieder Verstöße gegen den WHO-Kodex durch Nestlé gemeldet, etwa von der Nichtregierungsorganisation International Baby Food Action Network. Auch kommt eine Studie von Forschern mehrerer US-Universitäten von 2018 zu dem Schluss, dass Nestlé-Milchpulver tatsächlich die Säuglingssterblichkeit leicht erhöht, wenn Mütter keinen Zugang zu sauberem Wasser haben.

Kritiker monieren den nach wie vor zu hohen Zuckergehalt in Nestlé-Produkten

Neben der Milchpulver-Kontroverse weisen Kritiker des Konzerns immer wieder auf den zu hohen Zuckergehalt in vielen Nestlé-Produkten hin, vor allem solche, die für Kinder gemacht sind. Verbraucherorganisationen monieren auch hier, dass WHO-Empfehlungen nicht eingehalten würden. Der Konzern biete viele unausgewogene, zu süße Produkte für Kinder an, meint Martin Rücker von Foodwatch und nennt als Beispiel die Frühstücksflocken. Da gehe der Zuckeranteil zwar zurück, aber zu langsam. "In Deutschland erfüllt nur ein einziges Produkt von 14 uns bekannten Nestlé-Kinderfrühstücksflocken die Vorgaben der WHO für Kinderlebensmittel", sagt er. Manche Flocken enthielten doppelt so viel Zucker wie empfohlen.

Als Ärgernis bezeichnet der Verbraucherschützer auch die aggressive Werbung für Kinder. Dabei gehört Nestlé zu den Unterzeichnern einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie, in der sich die Branche Zurückhaltung bei Kinderwerbung auferlegt. Diese klingt zwar ambitioniert, lässt aber viele Schlupflöcher zu. "Da heißt es etwa, man verzichte auf den Einsatz von beliebten Komikfiguren aus TV und Kino. Unterlaufen wird das damit, dass Nestlé eigene Figuren wie den Nesquik-Hasen entwickelt", sagt Rücker. Im Kern wollten Firmen wie Nestlé mit der Selbstverpflichtung eine gesetzliche Werbebeschränkung verhindern.

Nestlé selbst widerspricht diesem Vorwurf entschieden. "Wir machen keine Werbung, die sich direkt an Kinder richtet", sagt ein Sprecher. Grundsätzlich arbeite das Unternehmen auf eine gesündere und ausgewogene Ernährungsweise hin und bemühe sich, dies für Verbraucher transparent zu machen.

In jüngster Zeit musste Nestlé sich auch viel Kritik an der Verpackung seiner Produkte anhören. Bei der Hauptversammlung des Konzerns im April stürmte eine Gruppe von Greenpeace-Aktivisten die Bühne, hielt Plastikmüll in die Höhe und Plakate mit der Aufschrift "Nestlé, this is yours." Greenpeace bezeichnet den Konzern als einen der größten Plastikverschmutzer weltweit. "Nestlé produzierte letztes Jahr 1,7 Millionen Tonnen Plastik, 13 Prozent mehr als im Vorjahr", sagte Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan bei der Hauptversammlung in Lausanne.

Der Konzern setzt sich schon länger mit dem Plastikproblem auseinander, das die gesamte Nahrungsmittelbranche betrifft. Vergangenes Jahr verpflichtete sich Nestlé, bis 2025 nur noch Verpackungen zu verwenden, die recycel- oder wiederverwendbar sind. Im Laufe dieses Jahres soll zudem das Nestlé-Institut für Verpackungswissenschaften an den Start gehen, das neue umweltfreundliche Materialien entwickeln soll. Nestlé setzt insbesondere auf recycelbare, biologisch abbaubare Stoffe.

Grundsätzlich, so der Konzern auf seiner Website, seien Verpackungen aber für die Sicherheit und Hygiene der Lebensmittel wichtig. "Wir werden nie die Gesundheit unserer Kunden aufs Spiel setzen."

Greenpeace hält die Strategie für ungenügend. Statt wie bisher zu 98 Prozent Einwegverpackungen zu verwenden, solle Nestlé sich auf Mehrweglösungen konzentrieren, so die Umweltorganisation. Zudem kritisiert sie die Lobby-Aktivitäten des Unternehmens gegen schärfere Plastik-Gesetze. Offenbar eine erprobte Strategie der Konzernleitung, wenn es um problematische Geschäftsfelder geht: gesetzliche Verbote vermeiden, dafür freiwillige Zielvorgaben und Selbstverpflichtungen aufstellen.

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