Jugendstrafrecht:Die Frage nach der Strafmündigkeit

Gewaltbereite Jugend Berlin Deutschland Violent youth Berlin Germany 11 01 2008 Be

Fast regelmäßig werden in Deutschland nach spektakulären Verbrechen Forderungen laut, das Jugendstrafrecht zu verschärfen.

(Foto: imago; Bearbeitung SZ)
  • Schon wieder werden nach schweren Verbrechen Forderungen laut, das Jugendstrafrecht zu verschärfen.
  • Derlei Parolen kommen nicht von Strafrechtlern, die wissen, wie es in Gefängnissen zugeht.
  • Eine EU-Richtlinie für Standards in Jugendstrafverfahren ist in Deutschland noch nicht umgesetzt.

Von Wolfgang Janisch

Nicht zum ersten Mal fiel der Mann mit dem Ruf nach mehr Härte auf. Dieses Mal hatte er schwere Straftäter im Visier, die - weil noch nicht 14 Jahre alt - durch die Maschen des Strafgesetzbuchs schlüpfen. So dürfe das nicht bleiben, die Altersgrenze müsse gesenkt werden. Der Mann hieß nicht Rainer Wendt, sondern Roland Koch, er war damals, Anfang 2008, Ministerpräsident Hessens und hatte eine "sehr aggressive Kriminalität einer sehr kleinen Gruppe" im Visier. Es wurde nichts draus, strafmündig wird man in Deutschland nach wie vor am 14. Geburtstag. Weshalb nun Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, den alten Schlager covert. Nach einer Vergewaltigung in Mülheim an der Ruhr stehen drei 14-Jährige und zwei Zwölfjährige unter Verdacht. Die Altersgrenze müsse auf zwölf Jahre gesenkt werden, meint Wendt.

Gerade beim Jugendstrafrecht sind die Debatten stets von spektakulären Vorkommnissen getrieben. 1998 löste ein junger Türke aus München - "Mehmet" genannt - eine hitzige Kontroverse aus. Mehr als 60 Straftaten hatte er auf dem Konto, als er endlich 14 Jahre alt wurde; am Ende wurde er in die Türkei ausgewiesen. Bei solchen Anlässen wird zuverlässig gefordert: Strafmündigkeit senken, Jugendstrafe von zehn auf 15 Jahre anheben, weniger Bewährungsstrafen, kein Jugendstrafrecht mehr für Täter zwischen 18 und 21. Kurzum: mehr Härte.

Franz Streng, Emeritus an der Universität Erlangen-Nürnberg, hat sich sein Leben lang mit Jugendstrafrecht beschäftigt. Seine Erkenntnisse zur Altersgrenze kann er in zwei Sätzen zusammenfassen: "Man kann unter 14-Jährige nicht in den Strafvollzug stecken. Die gehen vor die Hunde." Selbst für die Gruppe bis 16 Jahre hält er nicht viel vom Knast, denn der Strafvollzug sei für sie strukturell ungeeignet. Erstens würden die Jungen umgehend Opfer der älteren Gefangenen. Und zweitens seien sie in einem Alter, in dem sie Bezugspersonen und emotionalen Austausch benötigen - was sie vielleicht nie gehabt hätten.

Das Gefängnis sei dafür nun wirklich nicht geeignet. Den Glauben an die abschreckende Wirkung frühzeitiger, harter Sanktionen hält er für widerlegt, etwa beim einst so gepriesenen Warnschussarrest. "Der Jugendarrest funktioniert überhaupt nicht", sagt Streng, in Sachen Rückfall habe er die schlechteste Bilanz aller Sanktionen. Für manche Jugendliche sei das nur der Ritterschlag in ihrer Peergroup. Auch Torsten Verrel, Strafrechtsprofessor in Bonn, hält es für einen Irrglauben, dass junge Menschen rational die Konsequenzen ihrer Tat abwägten.

"Bei Jugendlichen spielt der Kopf nicht so mit, wie man sich das denkt."

Der gern bemühte Verweis auf andere Länder mit niedrigeren Altersgrenzen verfängt aus Strengs Sicht nicht. In der Schweiz und in Großbritannien liegt die Grenze bei zehn Jahren, aber es gebe spezielle Regeln für die ganz jungen Täter. 14 Jahre sei auch im internationalen Vergleich eine durchaus realistische Grenze. Hinzu kommt: Nach dem Jugendgerichtsgesetz kann nur bestraft werden, wer über die nötige Einsichtsfähigkeit verfügt - ein Ausfluss des Schuldprinzips im deutschen Strafrecht. Verrel sagt voraus, dass - sollte die Altersgrenze gesenkt werden - haufenweise Sachverständige den Reifegrad der Jugendlichen prüfen müssten.

Dabei hat die Forderung nach einem strengeren Umgang mit kriminellen Kindern auch unter Fachleuten Unterstützer gefunden - allerdings außerhalb des Strafrechts. Im Sozialgesetzbuch 8 findet sich eine Vorschrift zur Heimerziehung. In der Praxis waren dies früher fast ausnahmslos offene Angebote, Kinderheime waren verpönt. Aber seit einigen Jahren finden sich mehr und mehr Einrichtungen, die zumindest teilweise geschlossen sind. "Man muss auf die Jugendlichen einwirken können", sagt Bernd Klippstein, Staatsanwalt in Freiburg und Landesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. "Und man kann nur die erziehen, die man hat." Oder wie Franz Streng es ausdrückt: "Manchmal muss man die Tür zumachen."

Aber auch hier gilt: Im Umgang mit jungen Straftätern geht es nicht um Vergeltung, seit hundert Jahren nicht. Im Mittelpunkt steht der Erziehungsgedanke, den der große Strafrechtler Franz von Liszt im späten 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Ziel ist die Besserung, die Rückkehr auf den rechten Weg. In vielen Fällen, sagt Klippstein, zeigen sich junge Leute, die erstmals auffällig wurden, bereits durch das "normverdeutlichende Gespräch" mit einem Polizisten beeindruckt. Und es gibt sorgsam abgestufte Reaktionsmöglichkeiten: Arbeitsstunden, Sozialtraining, Anti-Gewalt-Kurse, Betreuungsweisung. "Viele erleben zum ersten Mal, dass man sich für sie interessiert", sagt Klippstein.

Eine EU-Richtlinie für Standards in Jugendstrafverfahren ist in Deutschland noch nicht umgesetzt

Die Kunst des Jugendrichters besteht deshalb darin, die passgenaue Reaktion zu finden. Und hier beklagt Streng erhebliche Defizite - weil die Jugendämter in den Prozessen viel zu selten vertreten seien. Ihr Job bestehe darin, den Richtern die Wurzel des Übels aufzuzeigen - Familie, Schule, Umfeld des Angeklagten. Allerdings seien die Jugendämter viel zu schlecht ausgestattet. "Diese Lücke muss man schließen, denn man braucht dieses Wissen im Prozess." Eine EU-Richtlinie für Mindeststandards im Jugendstrafverfahren könnte hier für Abhilfe sorgen - doch sie ist in Deutschland noch nicht umgesetzt.

Ein Blick in die baden-württembergische Jugendstrafanstalt Adelsheim lässt erahnen, wie kriminelle Karrieren beginnen. 417 Straftäter sind dort untergebracht, das Durchschnittsalter liegt übrigens bei überraschend hohen 19,5 Jahren. Sexualstraftäter machen dort weniger als sechs Prozent aus, rund 90 Prozent sitzen wegen Raub, Körperverletzung, Diebstahls oder Drogendelikten. Wie sie dorthin kamen? 40 Prozent haben keinen Schulabschluss, 96 Prozent keine Berufsausbildung, die Hälfte kommt aus broken homes mit Tod oder Trennung der Eltern.

Die Suchtproblematik liegt bei 50 Prozent, zwei Drittel haben einen Migrationshintergrund, oft mit prekären Lebensverhältnissen verbunden, 70 bis 80 Prozent waren selbst Gewaltopfer, angefangen bei Prügeleien unter Jugendlichen. Komplizierte Schicksale, die sie ins Gefängnis gebracht haben, harte Arbeit, um wieder in Freiheit Fuß zu fassen. Sollte man dieses System wirklich auf Zwölf- und 13-Jährige ausweiten?

Ein Praktiker verrät, warum es nie dazu kommen wird. Dann müsste sich die Justiz nämlich nicht nur um Vergewaltiger, sondern auch um Ladendiebe im Kindesalter kümmern. Das würde sie nicht schaffen.

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