Rechtsextremismus:In Wächtersbach wird auf einen Mann geschossen - und alle twittern über Schweinefleisch

Halb so schlimm, die Gewalttat, weil das Opfer überlebt hat? Die Zivilgesellschaft muss endlich zeigen, dass sie Hass und Gewalt von rechts nicht hinnimmt.

Kommentar von Detlef Esslinger

Was am Montag in Wächtersbach passierte, ist diese Woche bisher nur ein Thema neben vielen anderen gewesen; neben Boris Johnson, Schweinefleisch in Kitas und Hoeneß. Genau das ist über die Tat hinaus so alarmierend. Ein Mann schoss auf jemanden nur wegen dessen dunkler Haut, und es lässt sich nicht sagen, dass es das Land erschüttert hätte.

Für den Gleichmut lassen sich Gründe finden. Der harmloseste ist noch der, dass das Opfer überlebt hat. Da neigt man zu Erleichterung und dazu, den Fall unter "noch mal glimpflich ausgegangen" abzuhaken. Ein erschreckenderer Grund dürfte sein, dass der Mensch sich offenbar an solche Verbrechen irgendwie gewöhnt. So wie die Gesellschaft hinnimmt, dass es 2018 mehr als 4500 Fälle von Schusswaffengebrauch gab, nimmt sie inzwischen ja auch hin, dass im selben Jahr 173-mal Asylunterkünfte angegriffen wurden; also fast jeden zweiten Tag eine.

Es gibt indes einen großen Unterschied zwischen allgemeiner Kriminalität einerseits und andererseits Taten, die sich gegen bestimmte Gruppen richten. Was Einbrüche und Überfälle betrifft, kann man zur Vorsorge raten, persönlich und in der Sozialpolitik; man muss die Täter verfolgen und bei der Strafe auch an Abschreckung denken. Aber letztlich gehört solche Kriminalität zum Leben wie der Wechsel der Jahreszeiten.

Wer den Ton geringschätzt, tötet jede Debatte

Verbrechen jedoch, die sich gegen einzelne Gruppen richten, gründen oft in einem bestimmten Klima in der Gesellschaft oder Teilen davon. Linksextremisten missverstehen sich immer wieder als eine Art Avantgarde; am schlimmsten in dieser Hinsicht war die "Rote Armee Fraktion" (RAF). Es dauerte Jahrzehnte, bis wenigstens einige der Mitglieder begriffen, wie winzig im Grunde das Milieu war, auf das sie sich beriefen. Rechtsextremisten hingegen haben zumindest Anlass für die Annahme, aus "dem" und für "das" Volk zu handeln. Reporter, die in Wächtersbach nachfragen, erhalten Antworten dergestalt, die Aufregung sei völlig übertrieben, der Eritreer lebe ja noch. Und mit dem Schützen habe man immer "ganz normal reden" können. "Er war kein bösartiger Mensch." Das ist eine Nachsicht, auf die die mutmaßlichen Sexualstraftäter von Lügde (zu Recht) nicht hoffen durften.

Was folgt daraus? Erstens die Erkenntnis, welche Verantwortung jeder einzelne fürs gesellschaftliche Klima hat. Attentate wie das auf die heutige Oberbürgermeisterin von Köln, den Regierungspräsidenten von Kassel und nun in Wächtersbach gibt es, weil eine in Teilen verrohte Debatte die Atmosphäre geschaffen hat. Zivilität im Ton ist nie nur eine Frage des Anstands, sondern Lebensgrundlage der Demokratie. Wer den Ton gering schätzt, tötet jede Debatte - und motiviert im schlimmsten Fall Menschen, die für ihre Verbrechen eine Art Legitimation suchen. Zweitens ist es wichtig, dass die Zivilgesellschaft sich zeigt. In Kassel demonstrierten am Wochenende 10 000 Bürger gegen einen Marsch von 100 rechtsextremen Hetzern. In Wächtersbach kamen 400 Bürger zur Mahnwache, der Bürgermeister kümmert sich um die Familie des Eritreers.

Gleichgültigkeit wäre, nein: ist schlimm, sie untergrub schon immer alle Humanität. Am Dienstagfrüh war der Hashtag, der bei Twitter in Deutschland am meisten benutzt wurde: #Schweinefleisch, nicht #Waechtersbach. Und dann wundert man sich, wenn einer meint, als Ein-Mann-NSU aufbrechen zu müssen.

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