Protestkultur:Die Demokratie braucht den zivilen Ungehorsam

Manche Forderung der Klimaschützer von "Extinction Rebellion" wirkt fragwürdig. Doch der demokratische Staat braucht den symbolischen Ungehorsam radikaler Minderheiten, sonst erstarrt er.

Kommentar von Matthias Drobinski

Es ist gar nicht so einfach, in Deutschland Ungehorsam zu zeigen, wenn die Polizei nett ist und auch noch Herbstferien sind in Berlin. Bis Montagabend blieb es friedlich und bunt, nachdem die Frauen und Männer von "Extinction Rebellion" die Straßen rund um die Siegessäule besetzt hatten, um gegen die Erderhitzung zu protestieren. Die Staus hielten sich in Grenzen, die Rebellen gegen das Aussterben lobten die eigene Disziplin und die Zusammenarbeit mit den Behörden. Als kürzlich einige Aktivisten in Hamburg zum Beweis des Ernstes der Lage Kunstblut ausschütteten, sollen Polizisten ihnen erklärt haben, dass man solche Aktionen problemlos anmelden könne. Die Rebellen hätten kleinlaut geantwortet, dann sei es ja kein Ungehorsam mehr.

Spott beiseite: Zum Glück vereint dieser Protest gegen die menschengemachte Ausrottung der Arten Zorn und Radikalität in der Sache sowie Freundlichkeit in der Form, verbindet Jugendliche mit Großeltern, Protest-Profis mit Leuten, die sich erstmals einfach auf eine Straße setzen. Zum Glück kommt er anders daher als die dumpfe und mörderische Wut von rechts, die dem Andersdenkenden die Menschenwürde abspricht. Und zum Glück knüppelt keine Staatsgewalt den begrenzten Regelbruch nieder, wie es vor einer Generation noch die Regel war und auch danach geschah. Bleibt das die ganze Woche so, wäre das ein Zeichen demokratischer Reife auf beiden Seiten, auch wenn mancher Rebell enttäuscht sein dürfte, dass er nicht im Gefängnis gelandet ist.

Trotz des freundlichen Gesichts der Bewegung bleiben ihre Formen und Forderungen hinterfragbar. Ziviler Ungehorsam nötigt grundsätzlich anderen ein Thema auf, das den Protestierern so wichtig ist, dass sie Straßen, Kasernentore, Eisenbahnschienen blockieren. "Extinction Rebellion" tut das, weil aus Sicht der Bewegung die Menschheit akut in ihrer Existenz bedroht ist. Sie will so lange stören, bis der Klimanotstand ausgerufen ist. Man kann aber getrost bezweifeln, dass sie dann auf den von ihr vorgeschlagenen "Bürgerversammlungen" die Deutschen tatsächlich dazu bringt, so zu leben, dass die Treibhaus-Emissionen bis 2025 auf netto null sinken. Und dann? Nimmt man die Forderungen der Bewegung ernst, droht die fröhlich bunte Öko-Diktatur.

Es muss aber auch nicht jede Bewegung eine widerspruchsfreie Komplettlösung für das Problem anbieten, dessen Dramatik sie sichtbar machen möchte. Auch Heinrich Böll, der Schriftsteller, hatte sie nicht parat, als er sich 1983 mit anderen Prominenten vor das Tor des Mutlangen Army Airfield setzte, aus Protest gegen die Nato-Nachrüstung; Böll altersbedingt auf einem Klappstuhl. Keine der Frauen, keiner der Männer musste als Bundeskanzlerin oder Minister die Forderung nach der Auflösung von Nato und Bundeswehr umsetzen. Doch gerade ihre Radikalität und ihre symbolische Unbedingtheit, die Bereitschaft, eine Strafe auf sich zu nehmen, veränderten die politische Kultur. Was tust du gegen den Atomtod? Das wurde auch zur Frage für jene Politiker, die eine andere Antwort hatten als die Blockierer vor dem Kasernentor.

Aus dieser Kraft des Zeichens lebt der zivile Ungehorsam. Er ist, wie Jürgen Habermas 1983 schrieb, "ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen". Er ist die Verletzung einer Rechtsnorm, um den Gerechtigkeitssinn und das Gewissen möglichst aller aufzurütteln. 2011 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass gewaltfreie Blockaden Teil der politischen Willensbildung und deshalb nicht strafbar sein können. Die Entscheidung hält einen Lernprozess fest: Der zivile Ungehorsam der Anti-Atomkraft- und der Friedensbewegung, der Protestierer in Wackersdorf hat, in seiner gewaltlosen Form, die Demokratie und den Rechtsstaat nicht ausgehöhlt, sondern gestärkt. Der Geist von Mahatma Gandhi und Martin Luther King ist ein zutiefst demokratischer Geist.

Die Erderhitzung ist ein Menschenexperiment mit ungewissem Ausgang

Der demokratische Staat braucht den symbolischen Ungehorsam radikaler Minderheiten, sonst erstarrt er und entwickelt blinde Flecken. Er braucht den Zorn der Rebellen wider die Selbstausrottung, samt Apokalypse-Pathos und unausgegorenen Forderungen - damit auch die, die weniger radikal denken, merken: Die Erderhitzung ist ein Menschenexperiment mit ungewissem Ausgang, das wir vielleicht so nicht weiterlaufen lassen sollten.

Der Ungehorsam der "Extinction Rebellion" bleibt eine Gratwanderung. Es droht der Absturz ins Banale, in den Aktionismus und die Beschwörung des Weltuntergangs gleich übermorgen, bis es keiner mehr hören kann. Und es droht der Absturz in die Gewalt, wenn überraschenderweise die Bundeskanzlerin dann doch nicht auf alle Forderungen der Rebellen eingeht - so, wie es mit einem Teil der Anti-Globalisierungs-Bewegung geschah.

Zum Glück aber gibt es Menschen, die diese Gratwanderung wagen. Und denen, die an den Kompromissen feilen, sagen: Leute, das reicht noch nicht.

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