EU-Austrittsverhandlungen:London setzt voll auf Angriff

Brexit

"Ich komme gerade zurück vom Planeten Brexit - er ist schrecklich", mahnte ein "Brexonaut" in Brighton. Wenn sich Premier Boris Johnson durchsetzt, dürften die Mahnungen der Brexit-Gegner ungehört verhallen.

(Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP)
  • Wenige Tage vor dem EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober steht der Brexit-Deal endgültig auf der Kippe.
  • Es dürfte kein Zufall sein, dass der britische Premier Johnson und sein Team den Krisenfall just an dem Tag einläuten, an dem das Unterhaus erneut in die Zwangspause geschickt wurde. Das Parlament hat nun bis zum Gipfel kaum Gelegenheit zur Gegenwehr.
  • In Brüssel ist die Überraschung über den Zeitpunkt der Eskalation größer als über die Tatsache an sich.
  • Der Krisenmodus ist aktiviert, die Lage könne sich stündlich ändern, heißt es.

Von Cathrin Kahlweit, Alexander Mühlauer, London, und Matthias Kolb, Brüssel

Schon die Nachricht, die der konservative Spectator, der einen guten Draht in die Downing Street hat, mitten in der Nacht zum Dienstag veröffentlichte, machte stutzig. Eine gute Quelle habe auf die harmlose Frage, wie denn die Brexit-Verhandlungen so liefen, überraschend ein ellenlanges Memo geschickt. Der erste Satz lautete: "Die Verhandlungen werden wahrscheinlich in dieser Woche enden."

Das allein war jetzt noch kein Scoop; dass die Gespräche mit Brüssel nicht sonderlich gut liefen, war kein Geheimnis. Auf dem Tory-Parteitag in Manchester hatte Boris Johnson noch stolz mitgeteilt, man gebe den EU-27 zehn Tage für eine Antwort. Nach den ersten, eher abwehrenden Reaktionen hieß es dann, wenn das so weitergehe, werde der Premierminister nicht mal zum EU-Gipfel am 17./18. Oktober reisen.

Die Quelle, die der Spectator präsentierte und die Eingeweihte umgehend als Johnsons Chef-Berater Dominic Cummings identifiziert haben wollen, ging aber weiter ins Detail. Der irische Premier Leo Varadkar habe unerfüllbare Bedingungen gestellt für einen Deal. Und seit die Abgeordneten im Unterhaus mit dem "Benn Act", dem Gesetz zur Vermeidung eines Austritts ohne Vertrag, die Verhandlungsbasis der Regierung unterminiert hätten, zeige Dublin noch weniger Kompromissbereitschaft.

Und dann stand da, weil eine Einigung mit Angela Merkel, Emmanuel Macron und dem Rest der EU unwahrscheinlich sei, müsse man politisch voll auf Konfrontationskurs gehen: Um die Brexit-Partei von Nigel Farage zu schlagen und die Stimmen aller Brexit-Fans zu bekommen, gehe die Konservative Partei mit folgender Losung in die nächsten Wahlen: "kein Aufschub mehr, Brexit jetzt und sofort".

Auch das war an sich nichts Neues. Dass die Tories auf die nächste Wahl, im Londoner Politsprech nur GE (General Election) genannt, setzen, um ihre verlorene Mehrheit im Parlament wieder zu erlangen, ist bekannt. Unklar war bisher nur, welchen Kollateralschaden sie dafür in Kauf zu nehmen bereit sein würden.

Das Parlament hat im Moment kaum Mittel zur Gegenwehr

Der - nicht überprüfbare und von Downing-Street-Insidern nur kurz zusammengefasste - Inhalt des Telefonats von Angela Merkel mit Boris Johnson am Morgen war dann der nächste Schritt in die Eskalation. Offenbar nahm Johnson aus dem Gespräch den Eindruck mit, Deutschland werde dort auch in Zukunft nicht nachgeben, wo die EU-27 schon zwei Jahre lang nicht nachgegeben hatte.

Als die Erregung gegen Mittag auf dem Höhepunkt war, weil sich mittlerweile in Europa herumgesprochen hatte, dass der Brexit-Deal endgültig auf der Kippe steht, schickte die Regierung ihren Sprecher in den Ring. Beim üblichen Briefing der britischen Parlamentspresse in einem getäfelten Zimmer mochte ein Sprecher zwar nicht sagen, von wem die Zusammenfassung des Telefonats stamme, er bestritt aber auch nicht deren Inhalt und die Konsequenzen, die sein Chef daraus zog. Die Gespräche, bestätigte er, seien an "einem kritischen Punkt".

Es dürfte kein Zufall sein, dass Johnson und sein Team den Krisenfall just an dem Tag ausriefen, an dem das Unterhaus bis einschließlich kommenden Montag erneut in die Zwangspause geschickt wird. Diese Prorogation wird, anders als die erste, die vom Supreme Court aufgehoben wurde, nicht angefochten; am kommenden Montag soll die Queen's Speech, die Regierungserklärung, stattfinden, danach sind üblicherweise mehrere Tage für eine Debatte über die Regierungserklärung reserviert.

Das alles aber bedeutet: Das Parlament hat bis zum Gipfel kaum Gelegenheit zur Gegenwehr, falls Johnson, wonach es derzeit aussieht, die Gespräche endgültig für sinnlos erklären sollte.

Opposition uneins - Johnson hat freie Bahn

Die Opposition hatte sich allerdings in den vergangenen Tagen nicht auf eine Taktik im Kampf gegen einen möglichen Gesprächsabbruch und die Drohung, No Deal zu erzwingen, einigen können. Labour besteht darauf, dass Parteichef Jeremy Corbyn nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Johnson eine Übergangsregierung führen müsse. Die Liberaldemokraten sind dagegen, die von ihrer Partei hinausgeworfenen Tories sind bislang nicht bereit, am Sturz von Johnson mitzuwirken. Der Premier hat also freie Bahn.

In Brüssel ist die Überraschung größer über den Zeitpunkt der Eskalation als über die Tatsache an sich. "Sie brauchten eine Vorstufe für das Drama", sagt ein EU-Diplomat. Dass sich die Bundeskanzlerin so geäußert habe wie von britischer Seite dargestellt, hält man im Europaviertel für ausgeschlossen: "So redet Merkel nicht, sie ist die Meisterin der Mehrdeutigkeit."

Dass im Falle eines drohenden Scheiterns der Kampf um die Meinungshoheit und die Schuldzuweisungen schnell beginnen würde, war EU-Diplomaten klar. Einer sprach von "zwei Spielen, die gleichzeitig abliefen". Neben dem deal game sei dies eben das blame game. Gewohnt offen reagierte EU-Ratspräsident Donald Tusk, der Johnson auf Twitter aufforderte, "das dumme Spiel der Schuldzuweisungen" zu beenden: "Es geht um die Zukunft Europas und Großbritanniens sowie die Sicherheit und die Interessen unserer Bürger."

Die Knackpunkte sind gleich. Johnsons Vorschlag erfüllt die Bedingungen des "Backstop" nicht und macht Zollkontrollen in Irland erforderlich - eine Gefahr für den Frieden in Nordirland. Ein Vetorecht des Parlaments in Belfast ist für die EU ebenso inakzeptabel. Für Fortschritte bräuchte es aber neue Rechtstexte aus London.

"Dieser Gipfel ist der Unvorhersehbarste, den ich je erlebt habe"

Die Gerüchte, wonach Ungarn eine weitere Verlängerung des Austrittstermins blockieren könnte, werden in Brüssel ignoriert. Ähnliche Versuche habe es mit Polen gegeben, doch für Viktor Orbán stehe zu viel auf dem Spiel - bei EU-Fördergeld ebenso wie im Umgang mit den anderen Staats- und Regierungschefs. "Warum sollte er es riskieren, die Einheit der EU-27 zu opfern für jemanden, der womöglich am nächsten Tag nicht mehr regiert?" Kein einzelner Mitgliedstaat wolle für den Chaos-Brexit verantwortlich sein, weshalb die EU-27 einer weiteren Verschiebung zustimmen dürfte.

Der Krisenmodus ist aktiviert, die Lage könne sich stündlich ändern, heißt es. Klar ist der Zeitrahmen: Am 17. und 18. Oktober findet der EU-Gipfel statt. Zwei Tage vorher treffen sich die Europaminister zur Vorbereitung, bis dahin hätte ein Deal in greifbare Nähe rücken müssen. Auf Prognosen lässt sich kein EU-Diplomat mehr ein: "Dieser Gipfel ist der unvorhersehbarste, den ich je erlebt habe", seufzt einer, der an Dutzenden dieser Treffen teilgenommen hat.

Etwas Positives ist schwer zu finden in diesen dramatischen Stunden, aber Funkstille herrscht noch nicht. Um 13 Uhr setzte sich der Brexit-Gesandte David Frost mit EU-Chefunterhändler Michel Barnier im Gebäude der EU-Kommission an einen Tisch. Mehr als sechs Stunden berieten ihre Teams. Wie es nun weitergeht, darüber entscheidet ein anderer.

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